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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck
Autoren: Christa Wolf
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Maske und Kostüm dieser aufgetakelten anderen mit. Ja, es kam ihr manchmal sterbenstraurig vor, daß sie nicht sich selbst, nur dieses fremde Abbild von sich verteidigen durfte, aber sie gab sich nicht das Recht, sterbenstraurig zu sein. Worauf sie wirklich achten mußte, war, daß Maske und Hülle ihr nicht an irgendeiner Stelle ihres warmen, hungrigen, ungeschützten Körpers ins Fleisch wuchsen. Und daß sie nie, nie in einer schwachen Stunde einer Menschenseele ihr Geheimnis verriet.
    Vierundsiebzig, fünfundsiebzig... Das war doch nicht zu glauben. Ellen rechnete. Konnte es einen Menschen geben, der einhundertdreiundzwanzig Jahre alt werden wollte? Ich gewiß nicht, dachte sie entschieden, und am wenigsten, wenn solche unfruchtbaren Zeiten sich aneinanderreihen. Wie jetzt. Deren Ende nicht absehbar ist. Wenn man auch, das lernte sie hier, seine Zeit auf vielerlei Weise verbringen kann, ohne daß man sie für vergeudet halten mußte. Man kann dreimal am Tag das Geschirr abwaschen und es in den Küchenschrankräumen, den Jan schadhaft und abgeblättert als Werkzeugschrank in der Scheune vorgefunden, den er ausgebessert, weiß gestrichen, mit Papier ausgelegt hatte. Wie merkwürdig, daß solche Arbeiten ihnen hier sinnvoll erschienen und ausführlich beredet wurden. Was war mit ihr, war sie denn ganz und gar benebelt, daß sie hier alles gutheißen mußte. Daß ihr alles hier wirklicher vorkam als in der Stadt.
    Auftritt Littelmary. Mary in langem blauem Nachthemd und in Jans riesigen Filzpantoffeln, schweigend die Küche durchschlurfend, den Gruß nicht erwidernd. Ellen hielt sich zurück. Es mochte nicht gut für ein Kind sein, wenn man es jedesmal in den Arm nehmen oder wenigstens irgendwie berühren mußte, sobald man es erblickte. Der Kuckuck, sagte Littelmary, anklagend, ehe sie durch die Hoftür verschwand. Der mußte mich natürlich aufwecken. Sekunden später tauchte sie vor dem Küchenfenster wieder auf, um gründlich die rote, sonnenbeschienene Rückwand des Hauses zu mustern. Schließlich öffnete sie ihren Mund zu der Frage: Und wo sind die Schmetterlinge? Ellen war erschüttert. Sollte es menschenmöglich sein, daß dieses Kind vom letzten Jahr her die Vielzahl kleiner blauer Schmetterlinge in seinem Gedächtnis aufbewahrt hatte, die eines Tages, alle gleichzeitig ausgeschlüpft, wie eine wundersame blaue Wolke an dieser roten Hauswand auf- und abgeflattert waren? – Was denn für Schmetterlinge, Enkeltochter. – Na, die blauen. – Du – dieses Jahr sind sie nicht gekommen. – Warum? – Weitläufige vergebliche Erklärungsversuche durch das Küchenfenster.
    Der Maurer Uwe Potteck, der hinten am ehemaligen Schweinestall arbeitete, kam über den Hof und fragtemit der künstlichen Stimme, die Erwachsene annehmen, wenn sie mit Kindern sprechen, wie das kleine Fräulein denn heiße. Das kann nicht gutgehn, dachte Ellen, aber Littelmary musterte den jungen Mann nur kühl und ließ sich dann dazu herab, ihren Namen zu nennen, weil sie wohl zu dem Schluß gekommen war, der Maurer wisse wirklich nicht, wie sie heiße. Mary, wiederholte Uwe Potteck. Das sei aber mal ein schöner Name. Mary musterte ihn immer noch, und dann fragte sie: Warum?
    Eigentlich hatte sie anderes im Kopf. Eigentlich wollte sie ihre roten Zauberstiefel holen. Ellen schlug sich an die Stirn. Wie hatte sie vergessen können, daß Littelmary ohne die roten Zauberstiefel keinen Schritt in die gefährliche Wiesenwildnis tun konnte, wo die Gräser ihr bis zur Hüfte reichten, oder auf die von Fahrrinnen zerfurchte Dorfstraße. Daß Littelmary ein Stadt- und Hochhauskind war, das Beton, Schlamm, kurzgeschorene Rasenflächen und sorgfältig auskalkulierte Klettergerüste kannte, nicht aber Tümpel, Maulwurfshügel und echte Pferde. Zum Glück fand Ellen die roten Gummistiefel in einer Ecke der alten Waschküche, zum Glück paßten sie Littelmary noch, knapp. Keine Macht der Welt würde sie dazu bringen, diese Stiefel heute wieder auszuziehen, und wenn sie in ihrem eigenen Schweiß wie in einer Pfütze stehen sollte. Und ich, dachte Ellen, werde mich hüten, sie dazu aufzufordern, wie ich es früher, bei unseren Kindern, vielleicht getan hätte, weil ich dachte, was vernünftig ist, muß doch auch richtig sein. So verändert sich der Mensch – wenn auch in anderer Weise und in eine andere Richtung, als wir es uns einst gedacht haben.
    Nun also Eierkuchen mit Apfelmus, Littelmarys Lieblingsgericht.Hunderteins, hundertzwei... Ob dieser
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