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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck
Autoren: Christa Wolf
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einfach nicht geklappt mit der Buchführung über die Zu- und Abgänge, sie haben ihn auf den Futterboden umgesetzt, das wurmt einen Mann doch. Und was soll aus Inge werden, sagte Frau Freese heuchlerisch, Ernas Tochter, wenn sie nun doch den Abschluß der zehnten Klasse nicht schafft, und wenn sie dann doch nicht bei der Post ankommt, wo sie Telegrafistin werden will, das Telegrafische liegt ihr nun mal. Aber Frau Freese war da ganz skeptisch, wo nun der Jürgen es auch noch mit der Staatsmacht zu tun gekriegt hat. Da hat es mir doch die Sprache verschlagen, denn die Staatsmacht ist niemand anders als Frau Freeses Sohn, Dorfpolizist seit kurzem, und ein alter Feind von Jürgen Schependonk, mit dem er zusammen zur Schule gegangen ist und dem er letzten Sonnabend nach dem Dorftanz auf dem Weg zum Kater auflauerte, um ihn als Verkehrsteilnehmer in betrunkenem Zustand zu stellen, obwohl der Jürgen sein Motorrad im Stall gelassen hat und ganz gemütlichmit dem Fahrrad auf der menschenleeren Straße langfuhr. Nachts um eins. Ein Strafmandat? hat er Frau Freeses Sohn, den Dorfpolizisten, angeschrien, von dir? Und hat noch ein Wort gebraucht, das den Tatbestand der Herabwürdigung einer Amtsperson in Ausübung ihrer Pflichten erfüllt, und hat wohl auch ein bißchen mit seinem alten Kumpel zu rangeln angefangen, während dieser ihm, in Ausübung seiner Pflichten, einen Ärmel vom Anorak abgerissen hat. So erfuhr ich erst von Frau Freese, daß ein Prozeß über der Familie Schependonk schwebt, und mußte noch ihr Schlußwort hören: Manch einem ist nicht zu helfen. – Steffi, hast du mal nachgedacht über die vielen Menschen, denen nicht zu helfen ist? Wenn man erst mal den Blick für sie hat, sieht man sie überall.
    – Hast du die Briefe meiner Großmutter an ihre Tochter noch, die ich dir damals, im April, gegeben habe, als wir uns schließlich auf zwei Stühlen auf dem leeren Boden gegenübersaßen und es anfing zu dämmern? Weißt du die Stelle noch, die ich dir vorlas? Ich kenne sie auswendig. »In Gottes Namen ich Bin arm und Hilflos und verstoßen schon geboren, und so bin ich mihr selbs überlassen worden und habe noch dazu zum unklük mein junges freies Leben mit Heiraten auch noch hin gegeben Die Libe macht Blind und so komt ein übel um das andere Di Lieben armen Kinder Sind geboren worden 10 ander Zall und Das Elend war da Besonders ich Bin immer machtlos und rechtlos.«
    – Dann konntest du endlich weinen, und ich konnte dir die Hand in den Nacken legen, und dann saßen wir auf den Rohrstühlen mit den flachen Sitzkissen und sahen uns an, es war fast dunkel, und ich dachte,daß ich mir alles einprägen wollte, jede der häufig wechselnden Mienen auf deinem Gesicht, die Form deiner Hände, und wie du sie hieltest, wenn du mir ein Blatt herüberreichtest. Vergänglichkeit, du Donnerwort. Ich habe dich in der Vergangenheitsform gesehen, so, wie ich dich einmal beschreiben würde, falls ich das je wollte. Ich wußte, die Sünde, dich oder irgendeinen in eine Geschichte zu pressen, würde ich nicht begehen, ich kann nur noch unsere Alltage sehen, und es ist mir entfallen, wie aus den Tagen der Menschen Geschichten werden. Und doch sündigte ich, indem ich uns beide in unserem warmen Alltag sah und zugleich als Skelette. Dieser Vorgang macht mich nicht mehr fassungslos wie in der ersten Zeit. Du erzähltest mir deinen Traum.
    – Ich stand im Traum mit meiner Mutter an einem kleinen Abhang, das war meine Kindheitslandschaft, ganz vertraut, und meine Mutter versuchte, mich davon zu überzeugen, daß ich diesen Hang hinunterrutschen und mich auflösen müsse. Das tat sie ganz ruhig, und ich war auch ganz ruhig und gab mir Mühe, einsichtig zu sein, gehorsam ließ ich mich hinunterrollen, aber mit den Augen suchte ich nach einem Versteck, wo ich überleben könnte, mich nicht auslöschen müßte, und zugleich hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen des Betrugs. Ich sah nur einen stachligen Distelstrauch, der war zu niedrig. Und jetzt erzähl mir, wie ich es anstelle, daß meine Mutter nichts von meiner Krankheit merkt, wenn sie mich demnächst besuchen kommt.
    – Und daß du einfach mit ihr darüber sprichst?
    – Über den Krebs? Du bist nicht gescheit.
    – Aber was könnte passieren.
    – Nun. Zunächst Heulen und Zähneklappern. Und dann großes Mitleid meiner Mutter mit sich selbst. Wie immer.
    – Und du? Hättest von deiner Mutter lieber Mitleid mit dir.
    – Kein Mensch will Mitleid.
    – Das glaub ich
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