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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck
Autoren: Christa Wolf
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zusammenführte, stärker war als die Gegenkraft der Zufälle. Dabei waren wir nicht alle verloren wie Steffi, nicht im gleichen Sinn verloren wie sie. Ich war stolz auf mich,schrieb sie an Ellen, daß ich das Ungeheuerliche für mich behalten konnte. Aber man kann eigentlich gar nicht darüber reden, solange man es für möglich hält, denn dann herrscht die große Sprachlosigkeit, und alles geht einen nichts mehr an – oder ganz anders als sonst.
    Sterben? dachte Ellen. Aber doch nicht Steffi. Aber das paßt doch gar nicht zu ihr. Aber doch nicht gerade jetzt. An ihrer Wut erkannte sie, daß sie Steffi aufgab. Vergeblich arbeitete sie gegen die Bilder an, die in ihr aufstiegen. Sie wollte diese Bilder nicht kennen, kannte sie aber. Kannte auch die Verfassung der Überlebenden schon. Diesmal wollte sie nichts versäumen. Die Lebenszeit, die Steffi blieb, nahm sie sich vor, wollte sie nicht vergeuden. Ganz dringend will ich dich leben sehen, schrieb sie ihr.
    Leben um jeden Preis, schrieb Steffi zurück, aus der Klinik, das wollen wir doch alle nicht! Ich lebe, solange ich an Veränderungen glaube. Wer weiß, wie ich später antworten werde, wenns mir tatsächlich ans Leben geht. Vielleicht möchte ich dann nur überleben, irgendwie, unter allen Umständen. Wenn du stürbest, ich würde sehr um dich trauern.
    Ellen schrieb: Wenn du mir das merkwürdige, zeitgemäße Kompliment machst, daß du um mich trauern würdest, kann ich dir nur antworten: Auch ich würde sehr um dich trauern. Der Krebs darf dich nicht unterkriegen. Kannst du schlafen? Das ist doch wichtig. Hier lernst du es. Nachts, wenn wir von Luisa kommend über die Hügel gehn, ein ungeheurer Sternenhimmel. Gestern eine lang über den Himmel hin schießende Sternschnuppe, ich wünschte mir etwas, da war sie schon erloschen. Und der Große Wagen stand genauüber uns, auf dem Kopf. Er gab uns kleinen Figuren auf dem Feld eine eigene Bedeutung.
    Steffi schrieb: Gestern habe ich den ganzen Tag deine Augen gesehen. Ich habe Scheu vor großen Worten. Ich denke, daß wir uns jetzt zum erstenmal wirklich begegnen, weil ähnliche Erfahrungen uns erschüttern. Todeserfahrungen. Der wüste Winter, schreibst du. Ich könnte dich vielleicht damit trösten, daß es Schlimmeres gibt als den gesellschaftlichen Krebs.
    Ellen schrieb: Es ist doch fast ein Wunder, daß einem immer wieder Kräfte zuwachsen, etwas wie eine Auferstehung zustande kommt. Diesmal hab ichs bei mir nicht hoffen können. Und du bist, im Laufe deiner Auferstehung, schön geworden, glaub es nur.
    Was sie dachte, nicht schrieb: Schön und zerbrechlich.
    Ein Wort gibt das andere. Wie dicht der Zusammenhalt zwischen Wörtern werden kann, so daß sich Wortketten bilden, die uns mehrfach, vielfach umschlingen, eine unauflösliche Einkreisung, eine Wort-Verfilzung, die sich, anstatt sie nur zu bezeichnen, allmählich an die Stelle der wirklichen Verhältnisse schiebt. Sind wir verpflichtet, überhaupt berechtigt, weiter daran mitzuarbeiten? Solche Fragen paßten merkwürdigerweise in diese Landschaft. Sie gab ihnen Raum, auch Schärfe, sie selbst aber fragte nicht, und sie antwortete nicht. Die Beschämung, die uns manchmal ankam, wenn wir uns kleinlich anstellten, hatte nichts mit ihr zu tun, sowenig wie unser Zweifel, der später allerdings verging, ob wir uns von den Folgen würden freihalten können, die das Landleben als Modeerscheinung mit sich bringt.
    Einmal im Leben konnten wir teilnehmen am Ursprungder Legenden. Schon im zweiten Jahr versammelten wir uns, die Legenden des ersten zu erzählen. Wie Erna Schependonk uns ihr Leben erzählte. Wie Irene und Clemens ihr Haus bekamen. Wie der Misthaufen hinterm Stall in ein Rasenstück verwandelt wurde. Der erste Sommer gab dem zweiten Tiefe, und so würde es weitergehen.
    Erna Schependonk war eine andere, bevor sie uns ihr Leben erzählt hatte, eine andere danach. Es war ihr ein dringendes Bedürfnis gewesen, Ellen, die ja nun ihre Nachbarin wurde, wissen zu lassen, daß sie ein Schicksal hatte. Sie kam am Pfingstsonnabend, als Jan und Ellen in ihrem Vorgarten die Primelrabatten freilegten. Sie nannte ihren Namen. Ellen solle mal mit ihr kommen. Gleich? Am besten gleich. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. In Ernas Wohnstube wurde Ellen in den Sessel am Fenster gesetzt. Sie konnte sehen, wie Erna im Schlafzimmer nebenan eine abgewetzte Handtasche vom Kleiderschrank holte. Sie habe nämlich auch schon in der Zeitung gestanden.
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