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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck
Autoren: Christa Wolf
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Ellen bekam drei sorgfältig zusammengelegte, an den Rändern angegilbte Zeitungsausschnitte in die Hand. »Ergreifendes Wiedersehen«. Die Bezirkspresse hatte davon berichtet, wie Erna vor wenigen Jahren zum erstenmal in ihrem Leben mit ihrer polnischen Schwester zusammengekommen war. Das war hier, hier in diesem Haus, in der gleichen Stube, in der sie jetzt saßen. Von »Wiedersehen« kann ja keine Rede sein, wenn man sich früher noch nie gesehen hat, nicht? Das war doch gerade ihr großer Kummer gewesen, daß sie die eigene Schwester nicht gekannt hatte und daß sie sich nicht damit abfinden konnte, immer und ewig ohneAnhang durch die Welt zu tigern. Ihre Mutter nämlich, eine polnische Landarbeiterin, die sich in den dreißiger Jahren auf deutschen Gütern verdingen mußte, hatte ihr wie ein Losungswort eingegeben: Du hast eine Schwester in Polen!, es war das einzige, was sie, Erna, aus ihrer frühen Kindheit behalten hatte. Denn ihre Mutter war von ihr weggeholt und in ein Konzentrationslager gebracht worden – warum, das hat ihr noch keiner sagen können. Ihr Vater aber, ein deutscher Polizist, war im Krieg gegen Polen gefallen. Sie selbst war zeitweise in Kinderheimen, zeitweise in deutschen Familien aufgezogen worden, bis heute wußte sie nicht, was schlimmer war. Vor drei Jahren erst hatte das Rote Kreuz ihr die Adresse ihrer Schwester übermittelt. Und dann habe sie die Schwester, die noch im gleichen Sommer gekommen sei, nicht mal vom Bahnhof der Bezirksstadt abholen können; das Dorf habe gerade Seuchensperre gehabt. Aber vom Kreis sei einer dagewesen, mit einen Auto und einem großen Blumenstrauß, und an der Dorfgrenze habe sie gewartet, stundenlang, und eine Menge Menschen noch. Ja, auf einmal haben sie sie alle gekannt, und gestaunt haben sie nicht schlecht, daß auch sie, die Erna, eine Verwandtschaft habe, die hätten doch alle gedacht, die Einheimischen, sie habe der Esel im Galopp verloren. Bloß traurig sei es dann gewesen, daß sie mit ihrer Schwester nie unter vier Augen habe reden können, weil die ja bloß polnisch verstand, und sie nur deutsch. Der Schwager habe so recht und schlecht übersetzt.
    Erna Schependonks Stimme war zu laut für die Stube, sie selbst war zu dick für den Sessel. Sie wies Ellen darauf hin, daß auf einem kleinen Regal Bücher standen.Ja, sie lese auch manchmal. Sie holte eine Sammeltasse und eine Vase aus Rauchglas aus der Vitrine, dies beides habe sie als Anerkennung für gute Arbeit bekommen. Sie sagte, früher hab ich immer nur Kühe und Schweine um mich gehabt, jetzt arbeite ich mit Doktoren und Professoren zusammen. Erna fuhr jeden Tag mit dem Bus zur Bezirksstadt, sie war Reinemachfrau im Krankenhaus. Die lassen da nichts auf mich kommen, sagte sie. Sie bot Ellen frische Eier an. Es sei doch gut, wenn man sich kenne, wo man jetzt so dicht beieinander wohne. Wenn mal was ist, sagte sie, wo ich helfen kann, helf ich.
    Ganz zuletzt kramte Erna Schependonk aus der brüchigen Handtasche, deren Schnappverschluß fast nicht mehr zuhielt, einen Brief hervor. Eine ehemalige Mitgefangene ihrer Mutter schrieb ihr aus dem Westen, wie die Mutter gestorben war. Und jetzt, sagte Erna, jetzt lesen Sie mal den Schluß. Was steht da? Erna wußte es auswendig. Da steht: Fahren Sie nach Polen. Fragen Sie die Verwandten Ihrer Mutter, warum es mit ihr alles so gekommen ist. Mehr will ich dazu nicht sagen. – Ja, sagte Erna Schependonk, sehr erregt. In Polen sei sie inzwischen gewesen. Bei Kraków. Alle habe sie kennengelernt, auch den Onkel und die Großmutter. Gut habe man sie aufgenommen. Aber als sie nach ihrer Mutter gefragt habe: Schweigen. Eh du wegfährst, habe ihr der Onkel versprochen, sollst du alles erfahren. Und dann? Kein Sterbenswörtchen. Nichts.
    Jetzt weinte Erna. Man will doch wissen, was und wie, sagte sie. Wo es doch um die eigene Mutter geht. – Ob sie mal an die Frau in Westdeutschland für sie schreiben solle, fragte Ellen. Nein, sagte Erna, hat dochalles keinen Zweck. Ja, so ist das, sagte sie, wieder mit ihrer lauten Stimme. Alles Gute ist nicht beisammen.
    Was war es – Hochmut? Unkenntnis? –, das uns verwehrte, hinter Menschen wie Erna Schependonk oder Frau Käthlin ein Geheimnis zu vermuten. Die Zeit, sagten wir uns, hat Leuten, die gar nicht dafür gemacht scheinen, Geheimnisse auferlegt. Das Foto von Frau Käthlins Mann Walter hing noch über den Ehebetten, als Irene und Clemens das Haus übernahmen. Ein deutscher Frontsoldat in der Uniform des
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