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Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Titel: Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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Wieder ist, wie Du, lieber Max,
wahrscheinlich bereits festgestellt hast, ein Jahr vergangen, und ich weiß
nicht, ob es Dir so geht wie mir: allmählich wird mir dieser ewigwährende
Zyklus ein wenig leid, wozu verschiedene Faktoren, deren Urheber ich in diesem
Zusammenhang, um mich keinen Unannehmlichkeiten, deren Folgen, die in Kauf zu
nehmen ich, der ich gern Frieden halte, gezwungen wäre, nicht absehbar wären,
auszusetzen, nicht nennen möchte, beitragen.
    Jedenfalls bin ich gegen das
neue Jahr bestens gerüstet, bin gegen Diebstahl, Feuer, Hagel und Leben
versichert, nicht zu reden von höherer Gewalt, über die ich selten rede,
eigentlich nur, wenn sie sich bemerkbar macht, und selbst dann nicht immer, ja,
vielleicht sogar gerade dann nicht. Der Hund hegt begraben, die Schäfchen sind
im trockenen, das Huhn ist im Topf, der Topf hat seinen Deckel, der Hase liegt
im Pfeffer, die Flinte im Korn, unter einer steigenden Schneedecke, nach der
sich zu strecken ich den stürzenden — verzeih das Wort — Pistenfahrern
überlasse.
    Freilich, wo ich jetzt die
Blumen und wo den Sonnenschein nehme, und wo den Schatten der Erde, weiß ich
nicht. Vor allem das letztere wird nicht ganz einfach sein, ist ja auch im
Sommer nur unter großem Aufwand zu bewältigen, denn Schatten widersetzt sich
bekanntlich dem Einfangen und der Verpflanzung ganz und gar; wäre es nicht so,
würden mich Schatten umgeben. Die Blumen beziehe ich, sollte ich sie wirklich
brauchen, was nicht wahrscheinlich ist, aus dem Treibhaus, und der Sonnenschein
kann mir, wenn ich es mir recht überlege, was ich soeben tue, gestohlen bleiben,
oder vielmehr: er könnte es, wenn er mir jemals gestohlen worden wäre,
was nicht der Fall ist. Ich habe nie welchen besessen.
     
    Der Sommer war nicht eben groß,
aber groß genug, ich beklage mich nicht. Ein Sommer sollte ja auch nicht zu groß sein, aber ich weiß: manchem kann er nicht groß genug sein. Der Apfel fiel
nicht weit vom Stamm, das hat die Ernte um Wesentliches erleichtert. Aber auf
den Fluren hat jemand die Winde losgelassen, was ich als Rücksichtslosigkeit,
wenn nicht gar als Beleidigung empfunden habe; jedenfalls zeugt es von
schlechten Manieren — von Kinderstube will ich nicht reden, es ist zu
schmerzlich. Jemand hat auch den letzten Früchten befohlen, voll zu sein, und
ihnen noch zwei südlichere Tage gegeben, die zwar unerträglich waren, dafür ist
der Obstkeller jetzt gefüllt. Aber irgendeiner — ich weiß nicht, ob es derselbe
war — hat auch die letzte Süße in den schweren Wein gejagt. Ich habe den Kerl
nicht zu fassen gekriegt, wahrscheinlich hat er nachts gejagt. Und nun muß ich
mich, so wohl als übel, auf einen schweren süßen Jahrgang vorbereiten — aber
sei’s drum: die Jahrgänge werden ohnehin nicht leichter, dafür werden die
Zeitläufte auch immer weniger süß. Ist Dir das auch schon aufgefallen? Kannst
Du Dich etwa auch nur an einen einzigen süßen Zeitlauft erinnern?
    Immerhin habe ich ein Haus
gebaut. Es ist noch nicht trocken. Noch stehen die Mauern einigermaßen
sprachlos und kalt, während vor den dreifach verglasten Fenstern der Schnee auf
Einsilbiges wie Au und Flur, Hain und Pfad, Busch und Strauch, Bach und Teich
etc. sowie auf Zweisilbiges wie etwa Buschwerk und Tannicht, Strauchwerk und
Buchicht, Pfütze, Tümpel und Weiher herabrieselt. Es handelt sich, wie Du
dieser Aufzählung entnommen haben dürftest, um Umwelt, die ich übrigens nach
Gebühr schütze, sofern sie mich in Frieden läßt, was leider nicht immer der
Fall ist.
    Wie auch immer: bevor das neue
Jahr mit seinen unliebsamen und liebsamen Überraschungen — das letztere ist
selten, wenn nicht am Aussterben — seinen Lauf nimmt, will noch manche Träne
getrocknet, manche Theorie erhärtet und manches Haar gespalten sein. Denn bald
kommt schon der erste Schnee, und mit ihm kommen die ersten Loipen. Sie kommen
meist aus Wanne-Eickel, oder, wie Gebildete es nennen: Castrop-Rauxel. Sie sind
heterozesk, leider auch lärmend und gesellig, und pflanzen sich durch Zumutung
fort. Sie gehen auf die Nerven, von wo man sie leicht durch Abruf verscheuchen
kann. Nur gehen sie von dort meistens an die sogenannte Leibwäsche —
Gehirnwäsche trage ich nicht, ich bin leidlich abgehärtet — und von dort
schlupfen sie in unbewachten Momenten — und man kann ja schließlich nicht jeden
Moment bewachen — unter die Haut, von wo man sie nicht leicht wegbekommt, denn
hier vermehren sie sich. Ich finde das zwar
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