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Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Titel: Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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es
sei denn auf Anhieb, aber das willst Du gewiß nicht, mit Recht übrigens, ich
mag so etwas auch nicht. Man hat uns nun einmal das Leben geschenkt — ich finde
diese Redensart zwar höchst euphemistisch, aber wie auch immer: Geschenke von
Eltern oder solchen Personen, die durch den Schenkungsakt erst zu Eltern werden ,
kann man weder zurückweisen noch weitergeben, denn man fände nicht die rechten
Abnehmer. Außerdem beherrscht man gewöhnlich zur Zeit der Schenkung noch nicht
das rechte Vokabular, um die Sache für andere schmackhaft zu machen. Nun ja,
die Rückgabe wäre ohnehin schlecht möglich. Nur wundere ich mich, daß die
sofort nach dem Schenkungsakt einsetzenden Protestschreie des Beschenkten die
Schenker nicht stutzig machen. Möglicherweise aber sind sie schon stutzig, nur
die Beschenkten merken es nicht, da ihnen ja in diesen Dingen noch die rechte
Erfahrung fehlt. Aber wir hätten als Beschenkte ohnehin nicht die Gelegenheit,
diese Stutzigkeit auszunutzen, wir wüßten nicht, wo wir ansetzen sollten. Und
so beginnen wir denn wohl oder übel mit dem Leben, als ob nichts geschehen
wäre.
    Im Deutschen ist übrigens
Lebensgefahr und Todesgefahr dasselbe. Das gibt zu denken. Denn das hat ja zu
bedeuten, daß zum Beispiel Gewöhnungsgefahr dasselbe wäre wie Entwöhnungsgefahr
und Einsturzgefahr dasselbe wie Stehenbleibgefahr. Da stimmt etwas nicht.
Leider entgehen dieser Einsturzgefahr vor allem architektonische
Monstrositäten, während der Lebensgefahr, genaugenommen, nur eine Totgeburt
entgeht.
     
    Seit Jahren nehme ich
Psychopharmaka, die bekanntlich persönlichkeitsverändernd sind, und warte
darauf, daß man mich nicht mehr erkennt. Aber die Leute erkennen mich sofort,
auch wenn ich sie nicht erkenne, vielleicht nehmen sie wirksamere
Psychopharmaka. Möglicherweise also sind ihre Persönlichkeiten schon so
verändert, daß sie mich als einen völlig anderen erkennen, der ich
freilich auch wäre, wären meine Psychopharmaka so wirksam wie die ihren, so daß
man sich sozusagen auf einer anderen Ebene wiedererkennt, es sei denn, die
Ebenen wären gerade durch die ähnliche Zusammensetzung der
Psychopharmaka wieder dieselben geworden, so daß ich mit meinen unzulänglichen
Psychopharmaka sozusagen wieder allein dastünde. Dagegen spräche freilich der
Umstand, daß mich auch Leute, die keine Psychopharmaka nehmen, sofort
und unfehlbar wiedererkennen und damit de facto die Verschiedenheit der Ebenen
demonstrieren, es sei denn, ich deute dieses Verhalten durch eine Überdosis von
Psychopharmaka falsch. Auch weiß ich nicht, ob andere Psychopharmakanehmende
einander so schnell wiedererkennen, wie sie es zu Zeiten taten, als sie noch keine Psychopharmaka nahmen, das heißt, vielleicht halten auch sie einander
für andere, und, wer weiß, vielleicht sind sie es auch, nur ich bin, trotz Psychopharmaka, auch objektiv derselbe geblieben, während andere,
auch solche, die keine Psychopharmaka nehmen, sich verändert hätten, so
daß Psychopharmaka sie wieder zu denselben machen würden, die sie waren.
    Letztlich läuft eben alles
wieder auf die Frage hinaus: wer bin ich? Die hinlänglich bekannte Frage nach
der Identität, die man selbst, Psychopharmaka oder nicht, sofort als solche
wiedererkennt, sofern man etwas, was einem zum Hals heraushängt, überhaupt noch
erkennt, vor allem, wenn man eben doch Psychopharmaka nimmt. Manche greifen da
zu den Handbüchern >Wer ist wer auf der Welt?<, die mich eher verwirren.
Wer ist denn nun wirklich wer? Weißt Du es? Dann bitte ich Dich,
es mir mitzuteilen, am besten brieflich. Manch einer ist ja auch auf der Suche
nach seiner Identität abhanden gekommen, aber unglücklicherweise kehren die
meisten mit ihrer wiedergewonnenen Identität zurück und verzichten fortan auf
Psychopharmaka. Daß die Identität, die sie gefunden haben, meist nicht die ihre
ist —sondern die eines, der die seine freiwillig abgeworfen hat — , merken sie
nicht, sonst würden sie rückfällig. Sie fühlen sich wohl überall und bei allen,
vor allem aber in ihrer Haut.
     
    Nun, wie dem auch sei: ich wäre
gern ein anderer geworden, zum Beispiel einer, der wider den Stachel löckt,
aber ich weiß nicht, wie man löckt, kenne auch keinen, der es mir sagen könnte
oder der es gar tut, es sei denn, er löcke insgeheim.
    Vielleicht hätte ich einsamer
Rufer in der Wüste werden sollen, aber das erschien mir allzu pathetisch und
unzeitgemäß. Gewiß, wenn niemand zuhörte, wäre ich mit meinem
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