Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
Prolog
    W ie eine Symphonie in Marmor, so hatte der Erbonkel einmal geschwärmt, und so sieht Antonio Calori nun selbst die Palazzi am Canal Grande von seiner Gondel aus. Als Mailänder ist er an schöne, reiche Häuser gewöhnt, aber er muss zugeben, dass es den Palästen der Venezianer gelingt, gleichzeitig schön und graziös zu sein und miteinander zu harmonieren, obwohl sie doch gewiss genau wie in Mailand nicht gleichzeitig, sondern im Abstand von Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten entstanden sind. In Mailand hat man den Eindruck, die Reichsten der Stadt wollten einander ständig in den Schatten stellen und scherten sich den Teufel, ob das Ergebnis zueinanderpasste; hier scheinen es die Patrizier und ihre Architekten irgendwie fertiggebracht zu haben, dass sich die weißen, roten, blassgrünen und gelben Fronten auf bezaubernde Weise ergänzen und wie einzelne Noten ein klingendes, singendes Ganzes formen. Je mehr er von dieser Stadt sieht, desto mehr versteht er, dass es so viele Fremde aus dem restlichen Europa hierherzieht, auch wenn man in Mailand klatscht, dass sich dies in erster Linie den schönen Venezianerinnen und ihrer losen Moral verdanke und nicht so sehr den herrlichen Bauten.
    Bald verlassen sie den großen Kanal und gleiten durch einen der vielen Seitenkanäle. Er hat den Gondoliere vorab bezahlt, wie der Onkel es ihm geraten hat, und hofft, damit zu vermeiden, dass der Mann sie auf Umwege führt, um mehr Geld für mehr Zeit herauszuschlagen. Seiner Frau und seiner Tochter gehen immer noch die Augen über, obwohl die Palazzi nun, im schattigen Grün eines kleinen Kanals, mehr von Verfall gekennzeichnet zu sein scheinen. Weniger eine Symphonie als ein Trauermarsch, doch immer noch schön. Das Teatro di San Samuele, das ihr Ziel ist, prangt dagegen schon von weitem wie ein herausgeputztes Schmuckkästchen her. Aber es stinkt, das fällt ihm als Nächstes auf, als er mit seiner kleinen Familie das Theater betritt: verbranntes Öl und Kerzen, und vor allem der Schweiß zahlreicher Besucher, von denen ein Teil offenbar auch nicht gesonnen gewesen war, nach draußen zu gehen, um sich zu erleichtern.
    Außerdem krähen Verkäufer ständig herum, die Orangen und Wein anbieten. Durch die Jubelrufe und Flüche von den Spieltischen im Foyer und den Applaus, das Gelächter und Pfeifen aus dem Zuschauerraum herrscht ein ohrenbetäubender Krach. Signore Calori ist nicht mehr der Jüngste, und wäre es an ihm, so würde er den Abend geruhsam mit einem Buch verbringen. Schließlich wird er bald seine Verwaltungsstelle an der Universität von Bologna antreten, und da gilt es, auf alles vorbereitet zu sein, sonst werden sich seine zukünftigen Kollegen, Professoren an der ältesten Universität Europas, gewiss lustig über ihn machen, den zugereisten Mailänder. Aber er hatte seiner jungen Frau versprochen, einmal mit ihr ins Theater zu gehen, ehe sie Venedig wieder verlassen. Sie hat es sich so sehr gewünscht. Außerdem ist er in der Stimmung, großzügig zu sein: Gerade erst hat sie ihm mitgeteilt, dass sie erneut ein Kind erwartet. Einen Sohn nach der Tochter, dessen ist sich Signore Calori gewiss, einen Sohn, um den Namen Calori in der Welt fortzuführen. Doch wenn sie erst in Bologna eingetroffen sind, wird seine Gattin sich bald nicht mehr auf Gesellschaften blicken lassen können, wo Musik vorgeführt, getanzt und gespielt wird. Ein Abend in einem venezianischen Theater ist ihr deswegen mehr als nur zu gönnen.
    Dennoch hat er ein Auge auf sie, während er sich mit ihr durch die Menge drängt. Viele der Venezianer scheinen ihm doch zu fingerfertig zu sein, und sie tragen fast alle Masken, obwohl es doch Oktober ist. »Bei uns in Venedig, Dottore«, hat der Herbergswirt ihm mitgeteilt, »herrscht das halbe Jahr über Karneval.« Unter einer solchen Maske lässt sich nicht erkennen, ob jemand ehrsam oder lüstern dreinschaut, ja, ob er Mann oder Frau ist. Es ist alles ein wenig beunruhigend für einen ehrsamen Mailänder, doch Calori hofft, dass die Venezianer sich trotzdem nicht zu viel bei seiner Lucia herausnehmen werden. Nicht nur, weil sie unübersehbar in seiner Begleitung ist, sondern auch, weil sie ihre kleine Tochter an der Hand führt. Deutlicher kann man gar nicht machen, dass es sich bei Lucia Calori um eine ehrbare Ehefrau handelt. Er hat schon gewusst, warum er darauf bestanden hat, das Kind mitzunehmen, statt es mit einer Kinderfrau in der Herberge zu lassen.
    Seine kleine Tochter Angiola
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher