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Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Titel: Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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übrigens inzwischen aufgegeben, es kam nichts
Rechtes dabei heraus.
     
    Früh morgens, also nach dem
Lied, vor allem dann, wenn mir der Sinn danach steht, wenn überdies unser
Witterungsabschnitt von milden atlantischen Luftmassen durchdrungen oder —
besser noch — getränkt wird, ein eventuelles Azorentief von unserem Kontinent
noch weit entfernt ist, daher keine Gefahr besteht, daß Tiefausläufer mit
Schauerstaffeln mein nicht gerade unbändiges, sondern meistens eher bändiges
Lebensgefühl beeinträchtigen, gehe ich gern in die Binsen. Ich bahne mir
vorsichtig meinen Weg durch Stengel und Halme, um kein Nest zu beschmutzen,
denn die Binsen sind nicht nur voller Wahrheit, sondern auch und vor allem
voller Vögel — oft weiß ich nicht, wo Binse beginnt und Vogel aufhört — , es
handelt sich meist um Wachteln, Kiebitzregenpfeifer, Gelbspötter, Kolkraben,
Buchfinken und Baßtölpel, welche letztere Bezeichnung nicht etwa, wie man
annehmen möchte, einem Opernsängerfach gilt, sondern einer Art Pseudokormoran.
Einmal habe ich mit dem Feldstecher einen Schmalkaldener Mohrenkopf ausgemacht,
er sah aus wie eine Taube, was er eigentlich, natürlich ohne es zu wissen, auch
ist. Er ist selten, außer verständlicherweise in Schmalkalden, das bekanntlich
voller Mohrenköpfe ist wie der Harz voller Roller und Appenzell voller
Appenzeller.
    Dann komme ich zum See, der
still ruht, manchmal lächelt und zum Bade ladet. Ich widerstehe dieser Ladung,
ich kann eigentlich allem widerstehen außer der Versuchung, Du auch? Das Wasser
ist tief, das entnehme ich seiner Stille, und hat, ich möchte beinah sagen,
wenn auch keineswegs steif und fest behaupten, etwas Heilig-Nüchternes.
Jedenfalls ist es so nüchtern, daß es diese Schwäne, die mitunter volltrunken
sind von Küssen, deren Geber ich übrigens nicht kenne und auch niemals hier
angetroffen habe — vielleicht küssen auch sie nur nachts —, wieder nüchtern
macht, vielleicht sogar heilig-nüchtern, aber da bin ich nicht völlig sicher,
denn im Heiligen kenne ich mich nicht recht aus. Fischen tue ich nicht, dazu
ist das Wasser nicht trüb genug, ich glaube, Heiliges ist niemals trüb, aber da
mag ich mich natürlich irren.
     
     
    ... ich bahne mir vorsichtig meinen
Weg durch Stengel und Halme, denn die Binsen sind nicht nur voller Wahrheit,
sondern auch und vor allem voller Vögel — oft weiß ich nicht, wo Binse beginnt
und Vogel aufhört...

     
     
    Auf dem Heimweg rufe ich dann
manchmal in den Wald hinein, warte aber nicht, bis es heraustönt, weiß also
weder, wie es klingt, noch nach welcher Zeit dieses akustische Phänomen zu
wirken beginnt. Auch habe ich noch niemals etwas von anderen in den Wald
Hineingerufenes heraustönen gehört. Aber das mag daran liegen, daß hier nicht
viele Leute vorbeikommen, und von diesen wenigen wahrscheinlich noch weniger,
die in den Wald hineinrufen, sofern es überhaupt vorkommt. Wenn aber
doch, so haben vielleicht manche meinen Ruf gehört, aber wohl kaum
verstanden, denn ich rufe auf mittelhochdeutsch. Und daß Mediävisten
vorbeikommen, geschieht gewiß nur jedes Schaltjahr, und dann auch kaum
regelmäßig. Jedenfalls habe ich hier noch keine Menschenseele angetroffen und
eine andere erst recht nicht, dann schon eher eine Menschenseele. Nun stößt man
ja auch nicht eben oft auf eine Seele, die sich vom Körper befreit hat. Das
Gegenteil ist wesentlich häufiger, wenn wohl auch nicht die Regel.
    Still ist es hier wie im alten
Wald der Sage, oder ungefähr so still. Nur auch hier hin und wieder ein Vogel,
dessen lautes gurgelndes Gepiepse die Teilnehmer und Delegierten des Kongresses
für Fragen der Menschheit, der Menschlichkeit und des Gefühls in Pittsburgh,
Ohio, im Jahr 1904 in der Endabstimmung mit geradezu überwältigender Mehrheit
als schön zu betrachten beschlossen haben. Die Gegner dieses Beschlusses,
allesamt in solch schwindender Minderheit, daß man sie kaum wahrnahm und keiner
von ihnen ins Gewicht fiel, wurden, wie sie da waren, einer nach dem anderen,
verteufelt und sind es geblieben bis ins dritte und vierte Geschlecht.
    Allerdings bellt manchmal
nachts auf einem einsamen Hof am Waldrand ein Hund. Zwar sage ich mir dann, daß
Hunde, die bellen, nicht beißen, aber dieses beruhigende Diktum will mich nicht
recht überzeugen, denn das weiß zwar der Mensch, die Frage ist, ob auch der
Hund es weiß. Wir machen uns ja von seinem Wissen keinen rechten Begriff. Die
Tatsache, daß er des Menschen bester
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