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Einfach Freunde

Einfach Freunde

Titel: Einfach Freunde
Autoren: Abdel Sellou
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Ich rannte um mein Leben. Damals war ich in Topform. Die Jagd hatte in der Rue de la Grande-Truanderie begonnen – Straße der großen Gaunerei, so was fällt auch nur dem Leben ein. Eben hatte ich zusammen mit zwei Kumpels einem armen Bonzensöhnchen den Walkman abgenommen, einen klassischen, eigentlich schon veralteten Sony. Ich wollte dem Jungen gerade erklären, dass wir ihm im Grunde einen Gefallen taten, sein Papa würde ihm gleich einen neuen, viel tolleren Walkman kaufen, leichter zu bedienen, mit besserem Sound und längerer Spieldauer … Aber dafür war keine Zeit.
    Â»Achtung!«, brüllte jemand.
    Â»Halt, stehen bleiben!«, ein anderer.
    Wir liefen los.
    In der Rue Pierre-Lescot schlängelte ich mich mit beeindruckendem Geschick zwischen den Passanten durch. Das hatte echt Stil. Wie Cary Grant in Der unsichtbare Dritte . Oder wie das Frettchen aus dem alten Kinderlied, wobei es sich in meinem Fall ganz bestimmt kein zweites Mal blicken lassen würde … Als ich rechts in die Rue Berger einbog, wollte ich mich zunächst in das unterirdische Einkaufszentrum von Les Halles verziehen. Keine gute Idee, die Treppen am Eingang waren gestopft voll. Ich also links in die Rue des Bourdonnais. Vom Regen waren die Pflastersteine nass, ich wusste nicht, wer von uns die rutschfesteren Sohlen hatte, die Bullen oder ich. Meine haben mich nicht im Stich gelassen. Ich war Speedy Gonzales, flitzte davon wie die schnellste Maus von Mexiko, gleich zwei böse Kater auf den Fersen, die mich verschlingen wollten. Ich hoffte nur, dass auch dieses Abenteuer enden würde wie im Zeichentrickfilm. Am Quai de la Mégisserie holte ich fast einen meiner Kumpels ein, der mit einer Sekunde Vorsprung gestartet war und besser sprinten konnte als ich. Ich düste hinter ihm her zur Brücke Pont Neuf, verringerte weiter den Abstand. Hinter uns verhallten allmählich die Rufe der Polizisten, anscheinend machten sie schon schlapp. Kein Wunder, schließlich waren wir die Helden … Einen Blick über die Schulter hab ich allerdings nicht riskiert.
    Ich rannte um mein Leben, und bald drohte mir die Puste auszugehen. Die Beine wollten nicht mehr, bis Denfert-Rochereau würde ich es auf keinen Fall schaffen. Um die Sache abzukürzen, bin ich über die Brückenbrüstung geklettert, die Fußgänger vorm Sturz in die Fluten bewahren soll. Ich wusste, dass auf der anderen Seite ein etwa fünfzig Zentimeter breiter Vorsprung war. Fünfzig Zentimeter – mehr brauchte ich nicht. Damals war ich rank und schlank. Ich hockte mich hin, blickte auf das schlammige Wasser der Seine, die wie ein reißender Strom Richtung Pont des Arts floss. Die Absätze der Bullenstiefel klapperten immer lauter auf dem Asphalt, ich hielt die Luft an und hoffte, dass der ansteigende Lärm bald wieder verebben würde. Ich hatte keine Angst zu fallen, war mir der Gefahr gar nicht bewusst. Zwar hatte ich keine Ahnung, wo meine Kumpels steckten, aber ich baute dar­auf, dass sie ebenfalls rasch ein sicheres Versteck finden würden. Die Bullen zogen weiter, und ich lachte mir ins Fäustchen. Plötzlich tauchte unter mir ein Lastkahn auf, vor Schreck hätte ich fast das Gleichgewicht verloren. Ich wartete noch einen Moment, bis ich wieder normal atmen konnte, ich war durstig, eine Cola wäre jetzt genau das Richtige gewesen.
    Ich war kein Held, schon klar, aber ich war fünfzehn Jahre alt und hatte stets wie ein Tier in freier Wildbahn gelebt. Hätte ich damals über mich sprechen, mich über Sätze, Adjektive, Attribute und die ganze Grammatik definieren müssen, die man mir in der Schule eingetrichtert hatte, wäre ich ziemlich aufgeschmissen gewesen. Nicht, dass ich mich nicht ausdrücken konnte, im Mündlichen schnitt ich immer gut ab, aber dafür hätte ich kurz innehalten müssen. In den Spiegel sehen, einen Moment lang still sein – was mir bis heute, mit über vierzig Jahren, schwerfällt – und in mich hineinhorchen. Wahrscheinlich hätte mir das Ergebnis meiner Überlegungen nicht gefallen. Warum sollte ich mir das antun? Niemand verlangte so was wie eine Selbsteinschätzung von mir, weder zu Hause noch in der Schule. Für drohende Fragen hatte ich ohnehin einen untrüglichen Riecher. Sobald ich ein Fragezeichen witterte, suchte ich das Weite. Als Teenager war ich ein guter Läufer, mit wohltrainierten Beinen. Rennen
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