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Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Titel: Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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— und hatte die Größe etwa eines
Medizinballes, so wie ich ihn mir vorstelle — wie Du Dir einen
Medizinball vorstellst, weiß ich natürlich nicht — , es war grünlich-grau,
unscheinbar, auch unbeschreibbar, jedenfalls keines Aufhebens wert. Dennoch muß
jemand es aufgehoben haben, es sei denn, der Wind habe es verweht oder
entschweben lassen, aber dazu schien es mir zu gewichtig. Vielleicht hat es
sich aufgelöst, ich denke, vielleicht ist ein oder sind mehrere Kantianer
vorbeigekommen, die wußten, daß das Ding an sich sich dem Aufheben entzieht und
durch den Versuch der Inbesitznahme aufhört zu sein. Wahrscheinlich wollten sie
es daher nur aus der Ferne betrachten und wußten nicht, daß es sich auch der
Betrachtung widersetzt, was ich ihnen hätte sagen können. Jedenfalls handelt es
sich wieder um eines jener Rätsel, die immer dann entstehen, wenn das Resultat
eines Denksystems sich in die Wirklichkeit verirrt, in der es nichts zu suchen
hat. Denn um ein Begriff zu bleiben, muß sich ja das Ding an sich, im Gegensatz
zu uns Menschen übrigens, jeglichem Zugriff entziehen. Quod erat demonstrandum.
     
     
    Von hier sah ich neulich doch
tatsächlich das Ding an sich. Es lag in einem Dickicht von Rotdorn, Blaudorn,
Hagedorn, Hagebutte, Heilbutte und Männertreu, (...) es war einerseits rund,
andrerseits eiförmig... und hatte die Größe etwa eines Medizinballes...

     
     
    Nun ja, es kommen eben doch hin
und wieder Leute vorbei, freilich mehr Hegelianer als Kantianer, jedenfalls
meist Zeitgenossen, um nicht zu sagen Mitmenschen — dann besucht mich auch
dieser und jener, um Gemeinsames festzustellen, was so gut wie niemals gelingt.
Denn um Mißverständnisse zu vermeiden, vor allem Verständnissen vorzubeugen,
ziehe ich mich auf mein Mittelhochdeutsch zurück, und damit mache ich mein
Gegenüber sprachlos, was es zwar meist ohnehin schon ist, aber nicht weiß; —
wie viele denken, das Gegenteil sei der Fall! Im allgemeinen lebe ich
zurückgezogen, spreche wenig, lese hin und wieder ein gutes Palimpsest oder den
Satz des Anaximander oder einen luftigen Flattersatz, oder ich spiele auf der
Okarina eine Weise oder Teilweise von Liebe und Tod, manchmal auch von Werden
und Vergehen. Neulich war ich sogar bei einer Gesellschaft. Ich sah sofort, daß
sie verändert werden müsse, veränderte sie und ging früh nach Haus. Seitdem
habe ich auch zu Gesellschaften keine Lust mehr.
    Im Spätsommer ist übrigens der
Sensenmann vorübergeritten. Wir standen noch untätig vor der zweiten Mahd, noch
standen Butterblume, Kartoffelkraut und Blattspinat in voller Blüte, es wehte
durchs Espenlaub, die Wiesen waren noch nicht unverblümt, Mauersegler und
Kropfschwalben zogen allabendlich und allfürchterlich kreischend über meinen
und andere Standpunkte, der Salat stand kurz vor dem Schießen — da reitet doch
tatsächlich dieser Sensenmann heran. Leicht klappernd und knirschend saß er ein
wenig gebeugt — er ist ja der Jüngste nicht mehr, was er mit uns gemeinsam hat
— im Sattel seiner Schindmäre. Wir hatten einander lange nicht gesehen —
genaugenommen hatten wir uns noch nie gesehen, aber so genau nehme ich es mit
dieserlei Begegnungen nicht, und ich weiß, warum! — und ich rief, vielleicht
ein wenig zu übermütig — denn er ritt vorüber, hatte also nicht mich aufs Korn
genommen, sondern das schlohweiße Mütterchen, das, nach einem schweren Leben
voller Mühsal und Leid, angesichts des Todes ausgerufen haben soll: das hat mir
gerade noch gefehlt! — , ich rief ihm also zu: >Tod, wo ist Dein
Stachel?< — >Abgelöckt!< rief er zurück, vielleicht ein wenig zu
siegessicher für meinen Geschmack, den Du ja kennst, denn er weiß natürlich,
daß ich zwar das letzte Wort haben werde, aber er hat die Letzten Dinge,
sozusagen — und dann ruft mir dieser Kerl doch tatsächlich zu: >Natur, wo ist
Dein Busen!< — als hätte ich ihn aufgefordert, sich mit mir in ein Ratespiel
einzulassen. >Wieso Natur?!< rief ich, und auf einmal kam mich
Zitatenfreude an, was selten geschieht, aber es war im Goethejahr. Ich fügte
hinzu: >Natur und Geist, so spricht man nicht zu Christen!< — >Wieso
Christen?!< rief er zurück, und da hatte er mich. Ich hatte nicht gewußt,
daß er so gut Bescheid weiß. Ich verstummte, wenn ich mich recht erinnere,
kleinlaut, gewiß aber betreten. Ich fühlte mich mißverstanden, wie übrigens
oft. Vielleicht bin ich zu empfindlich, zu verletzlich und zu unleidlich,
obgleich ich mich immer
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