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Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Titel: Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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erliege,
zeitigt eine gewisse Menschenverachtung, der ich ebenfalls allmählich erliege. Das
macht sich vor allem im Nahrungskonsum bemerkbar. Bauernleberwurst esse ich
schon deshalb nicht mehr, weil ich an die arme Witwe denken muß, vorausgesetzt
der Verarbeitete war verheiratet. Neulich sah ich in einem Lebensmittelgeschäft
eine Familienfleischpastete. Bei einer solchen radikalen Ausnutzung bleibt
wenigstens kein trauernder Hinterbliebener. Dennoch, ich kann mich zum Verzehr
dieses Produktes nicht entschließen, es gibt eben Familien und Familien, und
ich weiß nicht, zu welcher der beiden Gattungen die hier verarbeitete gehörte.
Zwar hat, wie man mir mitteilt, der Kunde das Recht auf eine erschöpfende
Warendeklaration, aber hier vermißte ich dennoch die Angabe der Qualitätsstufe,
zumal da die Ware in Sparpackung angeboten wurde. Sparpackungen deprimieren
mich ohnehin, fast so wie Plastikzahnputzbecher, farbige Bettwäsche oder
Schmunzelbücher.
    Mit dem Essen bin ich nun
einmal sensibel, da kann man mir mit dem leckersten Ratsherrentopf kommen oder
mit opulenten Schwedenplatten, mich bringen keine zehn Pferde zu einem
Leichenschmaus. Schlachtplatten oder Schlachtroß sind mir zuwider, ich esse
ohnehin kein Pferd, und auch alles Menschliche ist mir fremd. So sah ich
neulich in einem Hotel im Schwarzwald auf der Speisekarte eine Herrenschüssel
verzeichnet. Dazu möchte ich, wenn es Dir recht ist, schweigen, es fällt mir
einfach zuviel dazu ein. Übrigens esse ich auch kein Huhn, das ich nicht
persönlich gekannt habe, und jeder Hasenjäger kann mich mit Hasen jagen.
    In einem Bekleidungsgeschäft in
Chur sah ich neulich ein Schild, auf dem stand: >Stark reduzierte Hosen<.
Ich dachte mir, daß hier wenigstens auf lapidare Weise der Reduktion des
Menschen, vor allem des Mannes, Rechnung getragen würde, keine Beschönigung,
kein Zacken an der Krone der Schöpfung. Auf einem Päckchen Seife, das ich
neulich kaufte, stand: >Die Desodorierung der Zukunft<. Genau weiß ich
nicht, was da gemeint ist. Wird die Zukunft durch diese Seife geruchlos gemacht
oder soll die Seife uns selbst desodorieren, so daß wir der Zukunft frisch und
geruchlos entgegenzutreten und ihre vielleicht nicht ausschließlich angenehmen
Düfte oder Lüfte oder Dünste zu übertönen imstande sind?
     
    Den Metzgern einer Stadt im
Aargau ist es endlich, wie ich der Bündner Zeitung entnehme, gelungen, die
zweihundertsechzig Meter lange Bratwurst herzustellen, gewiß nach manchem
frustrierenden Ansatz, denn solche Neuerungen werden meist teuer erkauft, ja,
mit Menschenleben bezahlt, man denke an die Pyramiden. Manch einer dieser
Pioniere mag das Ende der Wurst nicht mehr erlebt haben und liegt unter ihr
begraben, wenn nicht gar... nein, das nicht. Du siehst also, lieber Max,
Fortschritt überall. Bevor er sich vollends ausgebreitet hat — und manch ein
Anzeichen spricht dafür, daß wir ihn jeden Augenblick zu fürchten haben —,
solltest Du noch einmal hierherkommen, wer weiß, wie es nach diesem
Augenblick aussieht. Vermutlich überall gleich, was ja auch insofern wieder
sein Gutes hat, als uns alles Fernweh vergeht, allerdings mag uns dann die Nähe
auch nicht mehr so recht Zusagen. Jedenfalls wird das Reisen mit gewissen
Schwierigkeiten verbunden sein, und nicht nur das Reisen.
    Übrigens las ich gestern in der
Zeitung, daß im Schienenverkehrswesen — wo immer es sich herumtreiben mag —
eine schrittweise Veränderung geplant ist. Dies erscheint mir als eine
beziehungsweise Nachricht, sofern es nicht eine teilweise Entlassung des
Bahnpersonals mit sich bringt oder gar eine streckenweise Einschränkung des
Schienennetzes oder einen zeitweisen Unterbruch.
     
    Veränderung auf Veränderung. Es
ist eben nicht, wie die Wissenschaftler uns, mit beträchtlichem Erfolg,
weiszumachen suchen, fünf Minuten vor zwölf, es besteht daher keinerlei Anlaß
zur Panik, da es — Dir brauche ich das wohl nicht sagen — bereits dreiviertel
drei ist, und jede Panik wäre eine müßige und unangemessene Anstrengung. Das
wird Dir auch gern jeder Manager bestätigen, allerdings aus entgegengesetzten
Gründen. Zwar eilt die Wissenschaft uns weit voraus, aber die Wissenschaftler
rennen weit hinter ihr her und versuchen, sie wieder einzufangen, vergeblich
natürlich. Ich sehe sie da rennen, über Stock und Stein, laut rufend und
gestikulierend, mit Schmetterlingsnetzen und Botanisiertrommeln, als seien sie
von gestern, was sie natürlich nicht sind, sie sind
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