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Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Titel: Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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es
auch, und zwar jedem, der es hören will, natürlich sind das wenige, vor allem
im Verhältnis zu jenen, die überhaupt hören. Mich beeindruckt die
Solidarität dieser noch unbekannten Anzahl der Verweigerer so, daß ich jeden
Koch, der den Brei nicht verdirbt, scheel ansehe, vorausgesetzt, ich
begegne ihm und erkenne ihn sofort als Breiverderber. Ich habe da meinen Blick
einigermaßen trainiert. Dieser Blick soll denn auch sagen: du Konformist kochst
also an dem Brei mit, den wir auszulöffeln haben. Ob mein Blick das allerdings
wirklich sagt, weiß ich natürlich nicht, Blicke werden ja oft mißdeutet. Darin
unterscheiden sie sich nicht von Worten, Absichten oder Verhalten.
     
    Nach Mitternacht waltet bei mir
die kalte Mamsell, die ich mir aus der Kindheit hinübergerettet habe. Tagsüber
führt sie mir den Vitaminhaushalt, und ihre allnächtliche Aufgabe ist es,
Salamischeibchen zu rollen, kalte Büchsenspargel in Schinkenscheiben zu
wickeln, Zwiebeln zu dünnen Rädchen zu spletzen, Oliven über Salzstangen zu
stülpen, Käse zu Scheibletten zu hobeln, Gurke zu fächern, Tomaten zu achteln,
Radieschen zu Zähnen zu beschnitzen, Sülze zu würfeln und die trübgelben Würfel
über den Teller zu verteilen, Aufschnitt aufs welke Salatblatt zu betten, den
Tellerrand mit Brezelchen und Zierpetersilie zu zieren und den Aufbau mit
Zelophanschwarzbrot und Butterpäckchen zu servieren. Du siehst: sie kommt aus
Deutschland. Ihrer Bezeichnung entsprechend ist sie ziemlich kalt, vor allem
die Schulter, die sie Dir aber auf Verlangen gern zeigt, und sollte Dein
Verlangen damit nicht befriedigt sein und die Fleischeslust Dich überkommen, so
kann sie Dir auch ein Lendenstück braten oder grillen. Vielleicht solltest Du
ihr etwas mitbringen. Am liebsten hat sie Geschenkartikel. Vielleicht kommst Du
bei einem entsprechenden Geschäft vorbei.
     
    In New York werde ich Dich wohl
kaum besuchen, denn ich fliege nicht. Ich besteige kein Transportmittel, das in
dem Element, in dem es sich vorwärtsbewegt, sich nicht auch rückwärtsbewegen
oder stehenbleiben kann. Aber wenn Du einmal wieder in Zürich bist, will ich
Dich besuchen und Dir, wenn Du willst, Zuspruch spenden, den man ja auch in
dieser sonst so lebensfrohen Stadt brauchen kann. Die Polyglottis der Bahnhofstraße,
in der beinah jeder Fußgänger eine Zweitsprache spricht, die er niemals
gänzlich gemeistert, hat es mir so angetan, daß auch ich ihr etwas antun
möchte. Vor allem aber reizen mich diese kostbaren Uhren in den Auslagen, deren
Lapislazuliblatt keine Ziffern mehr zeigt und auch keine Striche. Es ist leer,
so daß man niemals weiß, welche Stunde es geschlagen hat, und man überhaupt die
Zeit nur ungefähr errät, wobei man, wie ich fürchte, sie niemals richtig errät. Warte nur, balde werden auch Uhren ohne Zeiger auf den Markt geworfen
bzw. auf purpurfarbenen Samt gelegt, die haben einen vierundzwanzigkarätigen
Quarz im Gehäuse, den man aber weder sieht noch hört, sondern nur dunkel
erahnt. Alles Ticken ist verdrängt, alles ist still, aber drinnen ist etwas in
Bewegung, was sich noch nicht verrät. Was mag das wohl sein? Jedenfalls wird
dann der Mensch — entschuldige das Pathos, das sich seltsamerweise bei mir
immer dann einstellt, wenn ich vom Menschen oder dergleichen rede — dann also
wird der Mensch den Wert des Sechse-Läutens erkennen, nur ist es dann zu spät.
     
    Auch zum Knabenschießen wollen
wir dann zusammen gehen. Gern möchte ich ein paar schöne Exemplare erlegen.
Schade übrigens, daß nicht auch in anderen Großstädten das
Übervölkerungsproblem auf solch sportliche Weise gelöst wird. In einem Kurort
in Tirol — ich möchte den Namen nicht nennen, da es sich um Ehrwald handelt —
wird im Sommer ein Gästeschießen veranstaltet. Ich weiß aber nicht, ob die
Gäste auf Einheimische oder aufeinander oder Einheimische auf Gäste schießen.
Das letztere erscheint mir unwahrscheinlich, weil es die Öffentlichkeit
verärgern würde. Ich verstehe nicht viel von Touristik oder Fremdenverkehr,
aber wie ich es sehe, gräbt sich ein Kurort mit einer ständig anwachsenden
Anzahl von Gästegräbern sein eigenes Grab. Andrerseits hat er um Allerheiligen
und Allerseelen herum noch einmal eine kurze Saison, denn dann kommen die
Flinterbliebenen, um die Gräber zu schmücken. Aber wahrscheinlich werden die
Opfer in ihre Heimatorte überführt, denn ein solcher Ort kann sich wohl einen
effizienten und zuverlässigen Bestattungsdienst leisten,
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