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Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Titel: Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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ich denke, Bestatter
und Sargtischler lachen einander ins Fäustchen — aber wer tut das nicht hin und
wieder! Es heißt da übrigens in den Schießvorschriften: >Nicht lizensierte
Schützen können aufgelegt schießen<. Ob gut oder schlecht aufgelegt, steht
nicht da, aber ich denke doch wohl gut , angesichts dieser Befriedigung
der Dezimierungslust.
    Hier auf dem Lande sind solche
Verfahren natürlich nicht nötig. Greis und Kind halten einander in edler
Eintracht — und wenn die Situation es erlaubt oder gar gebietet, mit stiller
Größe — die Waage. Und sollte ihr böses Zünglein sich einmal allzu tief zur
Seite neigen, nun, so wird man vielleicht dem einen in ein besseres Jenseits
verhelfen — wo mag eigentlich das schlechtere Jenseits liegen? Vor allem aber:
wo liegt das bessere Diesseits? Oder wenn wir in ihm sind, wo ist das
schlechtere? — nun also, so wird man dem einen den Garaus machen, das andere
mit dem Bade ausschütten, ein Fluß fließt durch das Dorf, ein Umstand, der im
Laufe der Jahrhunderte schon so manchem zugute gekommen ist.
    Du siehst also: hier herrscht
das Gleichgewicht. Ein jeder kehrt vor der Tür seines Nächsten, der den
Kehricht, um seinen eigenen bereichert, dem ersten wieder unter die Matte
schiebt, was zwar ein gewisses Durcheinander ergibt, da dieser die doppelte
Menge dem Nachbarn an der anderen Seite hinschiebt, der nun also die dreifache
Menge Kehricht besitzt, wenn nicht der Nachbar der anderen Seite auch schon die
doppelte Menge unter seiner Matte hatte, so daß er den vierfachen Haufen zu
bewältigen hat, usw. So wird hier also in gewisser Weise jeder zum Geber und
Nehmer, und es ist zu begrüßen, daß hier die Frage der Seligkeit nicht
im Spiel ist.
    Aber hier weiß auch jedermann,
daß man schwieriger Situationen am besten Herr wird, indem man kein Wort
darüber verliert. Dies hat nämlich den gewaltigen Vorteil, daß immer alles in
Ordnung ist oder scheint, aber eben das kommt hier auf das Gleiche heraus. Kein
Tourist ist hier jemals auf ein verlorenes Wort gestoßen, jedermann behält die
wenigen, die er sein eigen nennt, vor allem jene, die sein eigen sind, für sich, und die Ausgeborgten gibt er erst recht nicht her, sondern hütet sie
wie seinen Augapfel oder mehr.
    So ist hier schon manch ein
Fremder frustriert, und mancher Dichter hat hier vergebens um den Ausdruck
zwischenmenschlichen Geschehens gerungen, da ihm die entsprechende
zwischenmenschliche Erfahrung versagt geblieben ist, und ist mit eingezogenem
Schwanz — ich meine das natürlich bildlich — oder sollte ich vielleicht im
Gegenteil sagen: nicht bildlich? — unverrichteter Dinge in die Stadt
zurückgekehrt, um Schlechteres belehrt.
     
    Ich dagegen bin noch hier und
bleibe und lebe, wenn ich den bellenden Hund abziehe — was ich gern tun würde,
aber es gibt hier keine Abdeckerei — , in Ruhe und Frieden. Allerdings sind da
noch die Motorsäge, das Läuten und Bimmeln, das Muhen und Krähen, Blöken und
Teppichklopfen zu bewältigen. Aber ich bewältige gern, wenn es nicht allzuviel
Zeit beansprucht, am liebsten vormittags. Hier sitze ich denn und arbeite an
meinem Alterswerk, betitelt: >Der Schrank in Mythos, Sage und Geschichten Es
entspricht übrigens, wie ich mir unentgeltlich habe sagen lassen, einem echten
Bedürfnis, denn wer arbeitet denn heute noch an einer Metaphysik des Alltags?
Die Frage ist rhetorisch, daher bemühe Dich bitte nicht um eine Antwort, es sei
denn, Du schreibst selbst an einem solchen Thema.
    Gewiß, auch ich hatte einmal
Höheres im Sinne, nämlich eine Biographie des Anaximander, aber das ist
gescheitert, da ich nicht wußte, ob er seinen Satz als junger Mensch oder als
abgeklärter Weiser, und ob er nicht doch noch einen zweiten Satz gesagt hat.
Vieles spricht dafür.
    Jedenfalls lebe ich allein mit
meiner kalten Mamsell und meiner Neurose, die beiden vertragen sich vorzüglich,
eine nährt die andere — die ich aber meist nur bei Föhn spüre, ich meine die
Neurose, nicht die Mamsell. Und natürlich mit meinem Problem, das mir aber zum
Haustier geworden ist und mir aus der Hand frißt, auch wenn ich ihm nur den
kleinen Finger reiche, ja, dann vor allem.
    Vor Identitätskrisen bin ich
ziemlich sicher. Ich bin eben, wie ich hinlänglich demonstriert zu haben hoffe,
immer wieder ein andrer, hoffnungslos und hoffnungsvoll zugleich, abgeklärt und
aufgeklärt, abgekehrt und zugekehrt, unscheinbar und doch auf eigentümliche
Weise scheinbar. Kurz, wenn ich den Mund
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