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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt
Autoren: Bettina Belitz
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THE GATE
    Waren die immer hier? Nein, waren sie nicht. Ganz sicher nicht. Ich weiß es genau! Meine Reaktion kommt eine Millisekunde zu spät. Ich schaffe es zwar noch, das Lenkrad herumzureißen, doch der rechte Vorderreifen schrammt gegen die scharfe Bordsteinkante. Das Metall der Felge kreischt auf, dann prallt meine Stoßstange gegen die erste Mülltonne. Wie in Zeitlupe kippt sie gegen die nächste, bis die dritte Tonne in Schieflage gerät, alle drei schwanken vor und zurück, eine blaue, eine braune, eine graue. Mit einem dumpfen Poltern schlägt der Deckel der blauen Tonne gegen die Frontleuchten, Papiere und zerschredderte Pappstücke wirbeln durch die Luft und rieseln wie überdimensional große Schneeflocken auf mein Auto herab. Rumpelnd folgen die anderen. Domino mit Mülltonnen.
    »Verdammt …«, fluche ich unterdrückt und lege den Rückwärtsgang ein, um mich von der Altpapiertonne zu befreien und ordnungsgemäß zu parken, obwohl es zu spät ist, auch nur irgendetwas Unauffälliges zu tun. Rasch greife ich nach oben und knipse die automatische Innenbeleuchtung aus, um vollends mit der Dunkelheit im Auto zu verschmelzen.
    »Verdammt«, flüstere ich ein zweites Mal, als ein Schatten im Küchenfenster von Jules’ Haus erscheint, hochgewachsen und schmal. Ich kann ihn nicht zuordnen, wer von ihnen könnte es sein? Jules? Oder etwa Falk? Meine Fingerspitzen werden kalt, als ich seinen Namen denke. Falk Lovenstein. Nein, Falk war der Kleinste von uns. Simon hatte ebenfalls eine eher gedrungene Statur. Also ist es nicht Falk. Sondern Jules.
    Sieht er mich? Ach, Quatsch, er kann mich nicht sehen, das geht nicht. Die Scheiben des Wagens sind für ihn schwarz. Es ist schon seit Stunden dunkel, eine tiefgraue Nacht ohne Mond und Sterne, überall diffuser Dunst. Kein Windhauch geht. Als ob die Welt für immer eingeschlafen ist und der Frühling niemals kommen wird. Alles farblos und tot. Jeder ist krank und blass und müde. Selbstmordwetter.
    Langsam wende ich den Kopf zur anderen Seite. Eben noch sah das Haus rechts neben mir, zu dem die Mülltonnen gehören müssen, unbewohnt aus. Jetzt erstrahlt hinter einem der Fenster Licht und die Vorhänge schieben sich zur Seite. Eine Frau blickt nach draußen, auch von ihr erkenne ich nur die Umrisse und die genügen, um mir zu sagen, dass sie zu fett ist und eine miese Dauerwelle hat. Nun verschränkt sie vorwurfsvoll ihre speckigen Arme, die Ellenbogen stehen rechts und links heraus. Sie kann weder mein Gesicht noch meine Augen sehen, sie spürt meinen Blick nur. Kalt, schneidend. Bleib fern von mir. Wie von selbst gleitet der Vorhang zurück.
    Ich lehne meinen Hinterkopf gegen die Stütze meines Sitzes und schließe für einen Moment die Augen. Jules kann mich nicht erkannt haben. Sie wissen ja nicht mal, dass ich komme. Ich habe nicht zugesagt. Das konnte ich nicht, nachdem Maggie mir nicht verraten hat, wer die Gitarre übernimmt. Hatte mich sogar schon dazu entschieden, nicht zu kommen, ja so zu tun, als habe ich ihren Brief nie erhalten. Aber meine Neugierde und die Tatsache, dass ich keinen Auftrag habe, mit dem ich die nächste Woche totschlagen kann, haben mich in letzter Minute dazu getrieben, ins Auto zu steigen und loszufahren. Ich wollte wenigstens einen Blick auf das Haus werfen – jenes Haus, in dem ich mich behüteter und geborgener gefühlt habe als in meinem eigenen Heim. Doch ich wollte es unbemerkt tun.
    Und jetzt? Was zum Teufel mache ich jetzt? Eisern schlucke ich gegen das Kratzen in meiner Kehle an, als ich meine Augen erneut auf die andere Straßenseite richte. Ich könnte klingeln, hineingehen und mir die Situation in Ruhe anschauen. Danach entscheide ich, ob ich bleibe oder nicht. Ich muss nicht dort übernachten. Ich könnte mir ein Hotelzimmer nehmen. Falls ich den neuen Auftrag kriege und der Vorschuss überwiesen wird. Nur dann … Sonst kann ich es mir nicht leisten.
    Ich werde Martin anrufen. Vielleicht weiß er mehr. Mit einem Seufzen krame ich mein Handy aus meiner Lederjacke, um seine Nummer zu wählen. Es dauert nur wenige Sekunden, bis er abnimmt.
    »Hey, Rocky … Ich stelle dir grad einen Kasten Wasser in die Wohnung.«
    »Danke … Gibt’s was Neues aus der Redaktion? Hast du was gehört wegen der beknackten Feen-Reihe?«
    »Nein, sie haben es noch nicht entschieden, aber wenn sie kommt, bist du die Nummer eins.« Das Scheppern im Hintergrund verrät mir, dass Martin den Wasserkasten in meinem Flur abstellt. »Wo steckst du?
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