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Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Titel: Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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für leidlich gehalten habe — manchmal, meist gegen
Abend, denke ich überhaupt, ich sei gescheitert. Aber sei’s drum. Das ewig
Scheiternde zieht uns hinan.
     
    >Hölle, wo ist dein
Sieg?!< — anstatt kleinlaut zu verstummen, hätte ich das diesem
Sensenmann Zurufen sollen, damit hätte ich ihn zum Schweigen, wenn nicht gar
zum Nachdenken gebracht. Aber darauf bin ich nicht gekommen. Ich bin ein
schlechter Treffer, übrigens auch sonst fehlbar, letztlich auch kontaktarm und
unverbindlich, aber begabt.
     
     
    Das ewig Scheiternde zieht uns
hinan.

     
     
    Die Hölle stelle ich mir vor
wie das Zillertal. Oder wie die Tulpenfelder Hollands, oder die Passionsspiele
in Oberammergau. Oder wie St. Moritz im Sommer. Jeden zweiten Tag ein
neunstündiges Passionsspiel. Dazwischen ein Tag Musik angesichts von Tulpen.
Jeden Abend ein Konzert der Wiener Sängerknaben oder der Regensburger
Domspatzen, wenn das nicht überhaupt dieselben Knaben bzw. Spatzen sind.
Vormittags die Moldau unter Karajan oder etwas auf Originalinstrumenten,
handgebastelt und mißgestimmt von Harnoncourt. Oder Triosonaten von Telemann,
Piccolini, Ricotta, dal’Abaco, Locatelli oder von Telemann, Rosenmüller,
Eppenbauer Vater und Sohn, Wenzlsberger, Telemann, Muffat, Telemann oder von
Hans Christian Bach oder von Wilhelm August Bach oder von Carl Maria Bach oder
von Johann Wolfgang Bach oder Wilhelm Friedemann Bach oder von Georg Telemann
Bach für neun Blockflöten und Continuo. Es spielen Giselher Schramm, Hiroshima
Kajumi, Rainer Weckerle, Kakuzo Kozikawe, Irmengrad Wäwerich Sträubler,
Mitsubishi Toyota, Hedwig Wunderlich-Buhbe, Kazakumi Kozikawe — vermutlich der
Bruder oder die Schwester oder die Frau oder der Mann von Kakuzo Kozikawe,
vielleicht aber auch Vater oder Sohn — Osakazu Okakura und Karameli Tazubishi,
am Continuo Luitgard-Maria Tashayumi-Spechtle, eine übrigens nicht unbedeutende
Continuistin, von der man, so fürchte ich, noch hören wird.
    Im Angesicht der Natur, in
Holland in Form von einer Milliarde Tulpen, in St. Moritz in Form von Bergwelt,
und zwar zugleich lieblich und majestätisch, bzw. grandios, also in ihrer
gefälligsten und populärsten Variante, sitze ich — verzeih mir die grausige
Ausmalung — bei Campari-Soda, zähle die beginnenden Hautkrebse meiner
Mitmenschen und versuche, ihre Lebenserwartung abzuschätzen, denn alle sitzen
sie ja da, in Erwartung des Lebens, deren frohes Erschauern sie stets wieder
von neuem überkommt, allerdings wohl nicht mehr lang. Ich liege also in der
Sonne im Liegestuhl, und neben mir sitzt ein Mitmensch oder gar ein
Nahestehender und erzählt mir seine Träume, einen nach dem anderen,
stundenlang, erbarmungslos. Hin und wieder vergißt er eine Einzelheit und fängt
noch einmal von vorn an. Und wenn er alle erzählt hat, wird er von einem
zweiten abgelöst, der erzählt mir die Inhalte der Romane, die er in den letzten
Jahren gelesen hat, angefangen mit Dr. Schiwago bis zu den
dreihundertzweiundzwanzig Romanen von Simenon, der in Wirklichkeit bekanntlich
Simon heiße und aus Kattowitz komme, wie ja auch bekanntlich Proust Preßburger
geheißen habe und aus Budweis stamme, Thomas Mann habe bekanntlich... usw. Und
dann behauptet er frech, das alles müßte ich lesen, und verspricht mir
>Lesevergnügen<. Wie wenig wir Menschen einander doch kennen, denke ich
dann, freilich nicht nur dann.
    Oder es sitzt einer neben mir,
dem man sein Alter, wie hoch es auch immer sei, nicht anmerkt, der erzählt mir,
wie es früher war, als ein Huhn noch fünfzig Pfennige kostete, und drei Eier
vier Pfennig, bzw. vier Eier drei Pfennig, und ein Schock Eier nicht mehr als
ein Ster Holz und umgekehrt. Als im Sommer die Engadiner Grand-Hotels voller
russischer Großfürsten waren, Herren über tausend Werst und zehntausend Seelen
oder umgekehrt, die sich trunken auf den Perserteppichen wälzten und Champagner
aus den Schuhen ihrer Lieblingsballerinen schlürften und sich erschossen, wenn
sich herausstellte, daß zwei von ihnen eine Lieblingsballerina geteilt hatten.
Als alle amerikanischen Milliardäre noch Schuhputzer oder Zeitungsausträger
waren, als in Aida noch lebende Elefanten auf die Bühne kamen und in der
Walküre echte Pferde aus Wesendonckschem Gestüt. Als über dem sterbenden Schwan
der Pavlova das gesamte Theater in Schluchzen ausbrach, Carusos Bajazzo unter
die Haut ging, Paul Wegeners Mephisto unter die Gänsehaut und als die Kinder an
Kaisers Geburtstag schulfrei hatten.
    Oder es
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