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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck
Autoren: Christa Wolf
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und ihren Morgentraum nicht kannte, war verstimmt, als sie, für sich selbst überraschend, sagte: Ich glaube, wir müßten anders leben. Ganz anders.

4.
    Jetzt müssen wir von der Hitze reden. Die hatte erst angefangen, wir wußten noch nicht, daß es Die Hitze war. Ein schöner Sommer wird das, sagten die Leute. Ein warmer Sommer. Ein Hitzesommer. Die Zeitungen fingen an, ihn vorsichtig zu tadeln. Er hielt sich nicht an die Produktionspläne der Landwirtschaft. Wochen und Wochen fiel kein Tropfen Regen, und das in dieser meernahen Gegend. Die Natur schien gegen sich selbst zu arbeiten. Jeden Morgen stieß Ellen die Hintertür auf, trat auf den Grashof: Da war er, der sich gleich bleibende Sommer. Da stand die Sonne hinter dem lichten Kirschgehölz und sang. Sang wie hundert Stare, die als kreischende dunkle Wolke aufstoben, wenn Ellen in die Hände klatschte. Nun berührte der untere Rand der Sonne den Kirschbaum, die letzte Gelegenheit für heute, sie als Scheibe, Kugel, Gestirn zu sehen. Minuten später schon werden wir die Augen gegen sie abschirmenmüssen. Neu war es Ellen, ein Wort wie »lustvoll« in den Tag hinein zu denken. Sich darin zu üben, zuerst die Augen, dann die anderen Sinne zu öffnen. Vor dem dichten Vorhang der Stille die Morgengeräusche des Dorfes einzeln zu unterscheiden. Die brandige Trockenheit, die von leichter Bitterkeit durchsetzte Frische der Luft zu riechen. Die Wärme auf der Haut zu spüren. Auf die sanfte Gegenströmung von innen her zu warten, die so lange unterdrückt gewesen war und die keinem Zwang gehorchte.
    Bis von jenseits der Dorfstraße, aus ihrem mit flammendem Mohn über und über besetzten Vorgarten, Tante Wilma herüberwinkte. Ellen rief einen Gruß, den Tante Wilma beantwortete, obwohl sie ihn nicht hatte hören können. Tante Wilma, weit über siebzig, mit ihrer schlanken, immer noch straffen Figur, dem ordentlich aufgesteckten Haar, das von einem feinen Netz gehalten wird, dem schönen faltenreichen ovalen Gesicht, den wasserhellen Augen. Tante Wilma, die voll Ehrfurcht von der Hitze sprach. Passen Sie Achtung, hatte sie vor zwei Wochen gesagt, jetzt geht sie bei und verschlingt unseren Tümpel, und dann konnten sie zusehen, wie der Rand des trüben Wassers zwischen Schependonks und ihrem Gehöft sich Tag für Tag um mehrere Handbreit zurückzog, bis Schependonks Jungenten den Teich aufgeben mußten, bis auch der Storch, der sonst jeden Mittag im Tiefflug vom Hauptdorf herüberkam und ihn in seinem lächerlich gravitätischen Stechschritt nach Fröschen absuchte, von seinen Bemühungen abließ. Bis der Tümpel sich in ein Schlammloch verkroch, sich binnen weniger Tage mit einem hellgrünen Grasflaum überzog und nun trocken stand. So hatteTante Wilma ihn noch niemals gesehen, das sagte sie jedem, und sie war die Älteste hier. Mal eins zusehn, was sie sich nun noch vornehmen tut. Jetzt sprach sie von der Hitze wie von einer gleichgestellten Persönlichkeit, deren unvorhersehbare Beschlüsse man zu respektieren hat, ja sogar, das verwunderte Ellen, herbeiwünscht. Es war kaum zu glauben: mit ihren siebenundsiebzig Jahren war Tante Wilma immer noch neugierig. Jan hatte viel übrig für Tante Wilma. So zerstreut und unaufmerksam er sonst sein kann, so schlecht er oft zuhört – von Tante Wilma konnte er sich stundenlang die verwickelten Verwandtschaftsbeziehungen zwischen ihr und dem guten Dutzend anderer Schependonks in den umliegenden Dörfern auseinandersetzen lassen. Wie die einzelnen mit ihren Familien, wie wiederum diese Familien untereinander zusammenhingen, was sie voneinander wußten oder nicht wissen wollten, was ihnen über Jahrhunderte hin am wichtigsten geblieben war – das fand seine Teilnahme. Wie die Leute leben. Als hätte er sich nie für etwas anderes interessiert.
    Die Bank vor dem Haus, deren Farbe längst abblätterte und von der man annehmen mußte, sie werde jeden Tag zusammenbrechen, konnte er nicht durch eine neue ersetzen, weil sie auf sämtlichen Familienfotos der Rahmers vorkam, genau wie der Steinplattenweg von der Vorgartenpforte zur Haustür, dessen quadratische Platten »sich aufwarfen« und in deren Ritzen Gras wuchs, die also auch hätten neu verlegt werden müssen. Aber auf diesem Weg, neben dieser Bank, vor dieser Haustür hatte immer die ganze Rahmer-Sippe Aufstellung genommen, um sich fotografieren zu lassen, in den Blütezeiten der Familie bis zu dreißig Personen.Tante Wilma kannte einen jeden von ihnen, in- und auswendig
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