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Sommer mit Nebenwirkungen

Sommer mit Nebenwirkungen

Titel: Sommer mit Nebenwirkungen
Autoren: Susanne Leinemann
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Eingangstür. Paul verschwand schon durch das Ochsenauge und stellte sich auf die Leiter. Nun schaute sein Gesicht durch das offene Fenster herein.
    »Du bist dran«, grinste er. Das Wetter war besser geworden, das Sonnenlicht umspielte seine hellen Locken. Es hätte auch eine engelsgleiche Glasmalerei sein können. Sophie musste lachen.
    »Was lachst du?«, fragte Paul von oben.
    »Süß«, antwortete Sophie nur. Dann schnappte sie sich das Seil. Es hing doppelt, damit man es besser greifen konnte. In Windeseile kletterte sie hoch. Den Raum aus Höhe des Fensters zu sehen eröffnete einen völlig neuen Blick, die Vogelperspektive, die sie so liebte. Die Dinge sahen von oben klein und harmlos aus, wie Spielzeug. Von hier oben, kurz unter dem Ochsenauge, hatte sie den ganzen Raum im Blick, alle Schicksale, alle Dankesgaben. Und das war ein königliches Gefühl.
    »Gott ist kein Mensch, er kann nicht lügen, sein Wort der Wahrheit kann nicht trügen …«, sang der Chor in der benachbarten Kirche, als sie durch das Ochsenauge kletterte. Ein sonderbares Gefühl, wieder draußen zu sein. Nach so vielen Stunden.
    »Hol das Seil ein«, rief Paul von unten. Auf der Leiter stehend, zog Sophie es hoch und ließ es durch die Öse gleiten.
    »Gott macht den liebsten Sohn zum Bürgen, er lässt ihn martern und erwürgen, Gott ist getreu«, sang die Gemeinde.
    Das Seil fiel zu Boden. Sophie schaute ein letztes Mal nach drinnen. Alle Spuren der letzten beiden Nächte waren verwischt. Es war, als hätten sie den Krötenraum nie betreten. Sie mussten nur noch die Leiter fortbringen. Sophie nahm sie vorne, Paul hinten. Vorsichtig lavierte Sophie um die Ecke und versuchte, nicht an die Kirchenmauern zu stoßen.
    »Er reinigt mich von allen Sünden, er lässt mich Ruh in Christus finden. Gott ist getreu.«
    »Mein Lied«, murmelte Sophie.

20
    Die Leiter wog schwer. Gemeinsam bogen Sophie und Paul um die Ecke und traten auf die Wiese vor dem Quellhaus, die schon in der Sonne lag. Fast hätte Sophie die Leiter fallen lassen. Denn zu ihrem Erstaunen stand dort auf der Wiese Johann. Aber er war nicht allein. Er sprach zu einer größeren Gruppe Menschen. Die meisten kamen Sophie seltsam vertraut vor, obwohl sie sie noch nie im Leben gesehen hatte. Ein Ehepaar in Lodentracht, ein Mittvierziger mit Hornbrille, eine ältere, gut angezogene Dame, ein entspannt aussehender Kerl mit längeren Haaren – und Philipp von Studnitz. Er war bleich. Plötzlich sah Sophie, warum ihr ein Teil der Menschen so bekannt vorkam. Sie alle hatten dieses markante Nick-Knatterton-Kinn. Es mussten Mitglieder der Familie von Studnitz sein, vermutlich die Geschwister.
    Und dann war da noch eine wunderschöne, große Frau mit langen dunklen Haaren und einer tadellosen Figur. Sie trug ein tief ausgeschnittenes rotes Kleid. Sophie rieb sich die Augen. Sah sie schlecht? Nein, sie kannte das Kleid. Es war ihr Kleid – das Studio-54-Kleid aus New York. Jetzt erkannte sie auch die Frau. Verband und Pflaster waren ab, und die neue Nase sah ausgesprochen hübsch zu den hohen Wangenknochen und den vollen Lippen aus. Jetzt entdeckte sie Sophie, grinste sie höhnisch an und strich das Kleid glatt, sodass ihre schmale Taille und die langen Beine noch besser zur Geltung kamen.
    »Ist das nicht diese Fernsehtante? Die vom Privatfernsehen. Sie sieht irgendwie anders aus als sonst. Ich mag sie nicht besonders. Aber Respekt – heißes Kleid«, sagte Paul leise hinter ihr.
    »Das ist eigentlich mein Kleid«, antwortete Sophie, ohne die Moderatorin aus den Augen zu lassen, die ihr gerade diskret den Stinkefinger zeigte.
    »Verstehe. Mieser Charakter«, schlussfolgerte Paul.
    Johann schenkte den beiden Neuankömmlingen keinerlei Beachtung. Er hielt gerade ein silbernes Messer und eine silberne Gabel hoch.
    »Versilbertes Essbesteck, noch aus der Zeit der Hotelgründung, sehen Sie, dieses eigenwillige florale Jugendstilmotiv. Unser kurzfristig angereister Kunstexperte Herr Brüggemann …«, Johann zeigte auf einen jüngeren Mann in Anzug mit Weste, Krawatte und dazu passendem Einstecktuch, »… betont den hohen Grad der Versilberung. Dieser hat allerdings dazu geführt, dass die Oberflächen des Besteckes sehr zerkratzt sind, sehen Sie hier, sogar Kerben. Hundert Jahre Nutzung hinterlassen eben ihre Spuren. Deshalb würden wir dieses Besteck nachgießen, allerdings in Cromargan – eine hoteltaugliche Edelstahlmischung aus Chrom und Nickel. Sie sehen an diesem Detail, das Design
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