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Sommer mit Nebenwirkungen

Sommer mit Nebenwirkungen

Titel: Sommer mit Nebenwirkungen
Autoren: Susanne Leinemann
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Rettungskorb und machen eine Schlinge daraus, in die man sich einhängen kann. Wie eine Schaukel. So retten wir zwei.« Sophie war beeindruckt. Er machte auch keinen Hehl daraus, dass er in die Schaukel steigen wollte. »Das Risiko einer solchen Hängepartie kann ich einschätzen. Mit Höhe kenne ich mich aus.« Er war ein Teamarbeiter und doch nicht selbstlos. Sophie setzte ein Ausrufezeichen neben seinen Namen.
    Natürlich brachte auch einer den Zufall ins Spiel, diesmal der Betriebswirt aus Flensburg. Betont abgeklärt sagte er: »Wir sollten das Los entscheiden lassen, nur der Zufall ist gerecht. Zwischen dem Jüngsten und dem Zweitjüngsten liegen nur zwei Jahre – wo ist also der Unterschied? Und für emanzipierte Frauen gilt kein Welpenschutz.« Sophie wusste aus Erfahrung, dass ein Kandidat immer das Los ins Spiel brachte. Das war kein sehr innovativer Gedanke. »Langweilig«, schrieb sie auf. Die Gruppe diskutierte noch ein wenig hin und her und einigte sich am Ende tatsächlich auf den Jüngsten, einen sechsundzwanzigjährigen Volkswirt aus Bergisch Gladbach, der nicht so recht verstand, wie ihm geschah. Auch das gab eine Notiz. Keine positive.
    Heinlein hatte sich bis dahin auffällig zurückgehalten. Im Grunde genommen schrieb Sophie ihn schon ab. Er war der älteste Teilnehmer, ein farbloser Kerl aus der Provinz, der in der Geschäftsführung eines mittelständischen Elektro-Zulieferers bei Stuttgart arbeitete. Dieser Pitch um einen Manager-Job bei einem globalen Kosmetikunternehmen war einfach eine Nummer zu groß für ihn. Sophie wusste schon jetzt, dass der Headhunter sich bei Heinlein gründlich vergriffen hatte.
    Doch dann überraschte Heinlein sie. Indem er die Waffe zog, die Luger. Damit zwang er den Jüngsten, aus dem Korb wieder auszusteigen, nahm dessen Platz ein und fuhr ungehindert nach oben. Allein. Erwachsene hielten sich nicht immer an die Spielregeln. Genau genommen gab es die beim Rollenspiel auch nicht.
    »Gewonnen, gewonnen«, sang Heinlein, der sich vor Glück kaum einkriegte.
    Sophie ärgerte sich maßlos über sich selbst. Sie hätte dieses blöde Szenario nicht wählen dürfen, es geisterte längst durch Internet-Foren wie »assessment-albtraum.com« oder »hate-jobgames.de«, wo ihre Kandidaten sich auf den letzten Stand brachten. Wahrscheinlich fand sich auch die Sache mit der Waffe im Netz. Heinlein musste davon gelesen haben. Von selbst wäre er nie auf diese radikale Idee gekommen. Ungeduldig ließ Sophie die Mine aus dem Kugelschreiber ein- und wieder ausfahren. Sie schaute Heinlein mit ihren grünen Augen kritisch an. Nicht einmal ihre blonden Locken, die sie sonst immer weicher und lustiger wirken ließen, milderten ihren Gesichtsausdruck ab. Plötzlich bemerkte jeder im Raum, dass ihre Nase ein wenig schief war, wie bei einem Boxer. Eine blond gelockte Frau mit einer gebrochenen Nase? Nur Heinlein fiel nichts auf.
    »Wenn Sie oben angekommen sind, wird das Rettungsteam die Waffe in der Notkapsel finden«, sagte Sophie in einem scharfen Ton.
    »Quatsch, die entsorge ich vorher«, konterte Heinlein.
    »Sie können die Waffe nicht entsorgen, die Kapsel ist geschlossen und der Schacht so eng, dass nichts runterfallen kann. Die Waffe liegt bei Ihnen im Korb. Punkt. Jeder kann sich dann ausmalen, was unter der Erde geschehen ist. Es wird zum Prozess kommen.«
    »Na und?«, sagte Heinlein großkotzig, »ich nehme mir einen guten Anwalt und plädiere auf Psychostress. Sie wissen schon – Todesangst, ich bin wie von Sinnen, weiß nicht, was ich tue, bin für den Kram nicht verantwortlich. Vermutlich komme ich mit einer Bewährungsstrafe davon. Ich meine, Ihre Branche bietet doch eine Menge verständnisvoller Psychogutachter, die dem Richter schon klarmachen werden, dass eigentlich ich die arme Sau bin.«
    »Und was sagen Sie den Angehörigen der Toten, die Ihnen die Schuld geben werden?«
    Heinlein winkte ab. »Die werden mit Geld abgefunden, von der, was weiß ich – Bergwerksfirma. Ich meine, irgendwer ist doch für diesen Stollen verantwortlich, nicht wahr? Der zahlt dann halt.«
    Sophie schloss die Augen. Die Müdigkeit war wieder da. Diese tiefe, tiefe Müdigkeit. Heinlein hatte recht, wäre das Szenario real, er würde vermutlich wirklich nicht hart bestraft werden. Doch Sophie gefiel diese Richtung überhaupt nicht.
    Seit einigen Jahren wurden die Kandidaten zunehmend aggressiver, egomanischer, hemmungsloser. Die Bereitschaft, die Gruppe zu opfern, nur damit man selbst
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