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Sommer mit Nebenwirkungen

Sommer mit Nebenwirkungen

Titel: Sommer mit Nebenwirkungen
Autoren: Susanne Leinemann
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vor das Gebäude an, doch der brauchte seine Zeit – und das Ergebnis war trübselig. Dann stand man an der stark befahrenen Potsdamer Straße, rauchte und atmete gleichzeitig die Abgase der Autos ein. Doppeltes Lungenkrebsrisiko. Also wählte Sophie eines Tages den Weg nach oben auf das Dach, und so kam es zur ersten Begegnung mit dem verlassenen Zen-Garten.
    Die Bonsais konnte sie zunächst vor lauter Unkraut kaum sehen. Löwenzahn, Knöterich, Brennnesseln, Gras, alles wucherte vor sich hin. Der Dachgarten erinnerte sie an einen dieser kleinen Berliner Parks, in die man seinen Fuß lieber nicht setzte, denn die Gefahr, in tierische oder gar menschliche Hinterlassenschaften zu treten, war einfach zu groß. Aber dann bemerkte Sophie das aufwendige Mäuerchen. Warum hatte man das hochgezogen? Irritiert schob sie das Unkraut ein wenig zur Seite und entdeckte den ersten Bonsai. Eine japanische Schirmtanne, wie Sophie später herausfand.
    Ihre Neugier war geweckt. Noch am selben Abend kaufte sie im Baumarkt Gartenhandschuhe, eine kleine Hacke, einen sehr teuren Unkrautstecher sowie eine scharfe Gartenschere und bestellte in einem Spezialversand eine Bonsai-Schere. In einer Holzkiste brachte sie alles zur Arbeit und stellte diese oben auf dem Dach ab. Seitdem kümmerte sie sich um das Gärtchen, so oft sie konnte.
    Am Ende legte sie sechs Bonsai-Bäumchen frei. Eigentlich war Sophie kein Freund dieser überzüchteten Minikreaturen, andererseits musste sie respektvoll anerkennen, wie hartnäckig sich die Pflanzen in der Erde hielten. Diese Bäume hatten mindestens einen Winter allein hier oben auf dem Dach überstanden. Sie harrten wacker aus, behaupteten sich gegen das wuchernde Unkraut und das Ungeziefer. Das fand sie eindrucksvoll. Ein bisschen erinnerten sie die Bäume an ihre eigene Klientel einige Stockwerke weiter unten: Auch ihre Prüflinge waren meist überzüchtete Manager, groß geworden in irgendwelchen Schweizer oder englischen Business-Schools, elegant in Form und Auftreten, aber nur wenn sie wirklich gut waren, hatten sie auch den Biss, den es brauchte, um in der eisigen Wirtschaftswelt zu überleben. Sophie adoptierte also die Bonsais. Sie las sich ein, wie und wann man Bonsais beschnitt, und merkte bald, wie gut ihr die Arbeit auf dem Dach tat. Eine Viertelstunde an der frischen Luft reichte meist, um den Kopf frei zu kriegen. Obwohl Sophie gerne in Berlin lebte, vermisste sie die Natur. Sie sehnte sich nach den langen Spaziergängen mit dem Hund über die Felder bei ihren Eltern. Ihre Berliner Freunde, ihre beste Freundin Nina, auch Johann, verstanden das nicht. Die Großstadt gab Sophie nicht alles, was sie brauchte. Aber der kleine Zen-Garten machte es besser. Er machte sie glücklicher.
    Sie hatte jedem Bonsai einen Namen gegeben. Alles Jungennamen, die mit »E« begannen: Erwin, Edgar, Egon, Eno, Emil und Enrique. Sie fand, die Namen passten ganz gut zu den kleinen Bäumen, die alle auf ihre Art eigen waren, verdreht, knorpelig, geduckt, gespreizt. Als Erstes kümmerte sich Sophie um Erwin, eine Mädchenkiefer.
    Er roch wie eines dieser Wohlfühl-Schaumbäder aus der Drogerie. Sophie untersuchte, ob er schädlingsfrei war, entfernte ein trockenes Ästchen und holte dann den Wasserzerstäuber hervor, um ihn zu besprühen. Es war schön zu sehen, dass auch den Bonsais Sophies tägliche Besuche guttaten.
    Außerdem hörten die Bonsais ihr zu.
    Denn während sie sprühte, führte sie Gespräche mit ihnen.
    »Nein, ich schäme mich nicht für meinen Beruf. Genau deshalb habe ich Psychologie studiert – weil ich die Stärken und Schwächen von Menschen gut erkennen kann. Das Assessment-Center passt zu mir. Ich bin keine Händchenhalterin! Ich werde mich nicht an den Rand einer Couch setzen, mir tragische oder einfach blödsinnige Geschichten irgendwelcher Patienten anhören, ab und zu ein Kleenex rüberreichen, damit sie sich die Tränchen trocknen können, und dann nach dem Schlüssel zur Lösung suchen, der in irgendeiner frühkindlichen Erfahrung verborgen liegt. Das kann ich nicht, dafür fehlt mir schlicht die Geduld. Ich habe nicht jahrelang studiert, um dann das verkorkste Dasein anderer Leute in endlosen Therapiesitzungen zu bequatschen.«
    Ein leichter Windstoß ging über den Dachgarten und brachte Egon, den rotblättrigen Fächerahorn, in Wallung. Seine leichten Blätter fuhren sanft durch Sophies Haare.
    »Ja, ich weiß, meine Locken signalisieren etwas anderes – sie täuschen ein
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