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Blinder Passagier

Blinder Passagier

Titel: Blinder Passagier
Autoren: Patricia Cornwell
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    -BW-
    6. Dezember 1996
    Epworth Heights
    Luddington, Michigan
     
     
    Meine liebste Kay,
    ich sitze auf der Veranda und schaue hinaus auf den Lake Michigan, und ein heftiger Wind erinnert mich daran, dass ich mir die Haare schneiden lassen muss. Ich denke an das letzte Mal, als wir beide hier waren und für einen kostbaren Augenblick in der Geschichte unserer gemeinsam verbrachten Zeit vergaßen, wer und was wir sind. Kay, Du musst mir zuhören.
    Du liest diese Zeilen, weil ich tot bin. Als ich beschloss, diesen Brief zu schreiben, bat ich Senator Lord, ihn Dir persönlich Anfang Dezember zu übergeben, ein Jahr nach meinem Tod. Ich weiß, wie schlimm Weihnachten immer für Dich war, und jetzt muss es unerträglich sein. Mein Leben begann, als ich mich in Dich verliebte. Jetzt, da es vorbei ist, wünsche ich mir als Geschenk von Dir, dass du weiterlebst.
    Selbstverständlich hast Du überhaupt nichts verarbeitet, Kay. Du bist wie der Teufel an Schauplätze von Verbrechen geeilt und hast mehr Autopsien gemacht als je zuvor. Du hast Dich aufgerieben mit Auftritten vor Gericht, mit der Leitung der Rechtsmedizin und mit Vorträgen, Du hast Dich wegen Lucy gesorgt und über Marino geärgert, Du hast Deine Nachbarn gemieden und Dich vor der Nacht gefürchtet. Du hast keinen Urlaub genommen oder Dich auch nur für einen Tag krank gemeldet, sosehr Du es auch gebraucht hättest.
    Es ist an der Zeit, dass Du aufhörst, Deinem Schmerz auszuweichen. Lass Dich von mir trösten. Halte im Geist meine Hand und erinnere Dich an die vielen Male, die wir über den Tod geredet und nie hingenommen haben, dass eine Krankheit, ein Unfall oder eine Gewalttat die Macht besitzt, uns vollkommen auszulöschen. Unsere Körper sind nur die Hüllen, die uns umgeben. Wir sind so viel mehr als das.
    Kay, Du sollst wissen, dass ich mir Deiner irgendwie bewusst bin, während Du diese Zeilen liest, dass ich irgendwie auf Dich aufpasse und dass alles gut werden wird. Ich bitte Dich, dass Du eines tust, um das Leben zu feiern, das wir gemeinsam hatten und das, dessen bin ich sicher, nie enden wird. Ruf Marino und Lucy an. Lade sie heute Abend zu Dir zum Essen ein. Koch eins Deiner berühmten Gerichte für sie und halte einen Platz für mich frei.
    Ich werde Dich immer lieben, Kay,
    Benton

1
    Der Vormittag erstrahlte in leuchtendem Blau und in den Farben des Herbstes, aber nichts davon berührte mich. Sonnenschein und Schönheit waren etwas für andere Leute, mein Leben war leer und trostlos. Ich starrte aus dem Fenster auf einen Nachbarn, der Laub zusammenrechte, und fühlte mich hilflos, gebrochen, kaputt.
    Bentons Worte ließen all die schrecklichen Bilder wieder auferstehen, die ich hartnäckig unterdrückte. Ich sah, wie die Lichtkegel von Taschenlampen auf verbrannte Knochen zwischen nassem Schutt und Wasser fielen. Erneut packte mich Entsetzen, als verschwommene Formen zu einem versengten Kopf ohne Gesicht und zu Büscheln rußigen silbernen Haars wurden.
    Ich saß an meinem Küchentisch und nippte an dem heißen Tee, den Senator Frank Lord mir gemacht hatte. Ich fühlte mich erschöpft, und mir schwindelte von der Übelkeit, die mich zweimal auf die Toilette hatte flüchten lassen. Und ich fühlte mich gedemütigt, weil ich nichts so sehr fürchtete, wie die Kontrolle über mich zu verlieren, und genau das war passiert.
    »Ich muss noch einmal Laub zusammenrechen«, sagte ich idiotischerweise zu meinem alten Freund. »Heute ist der sechste Dezember, und es ist wie im Oktober. Schau nur, Frank, wie groß die Eicheln sind. Ist dir das schon aufgefallen? Angeblich lässt das auf einen harten Winter schließen, aber bislang sieht es so aus, als ob wir überhaupt keinen Winter kriegen würden. Ich kann mich nicht erinnern, ob es in Washington auch Eicheln gibt.« »Bestimmt«, sagte er. »So es noch Bäume gibt.« »Sind sie groß? Die Eicheln, meine ich.« »Ich werde nachsehen, Kay«
    Ich schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Er stand vom Tisch auf und kam zu mir. Senator Lord und ich waren beide in Miami aufgewachsen und in derselben Erzdiözese in die Schule gegangen. Ich war allerdings nur ein Jahr auf der St. Brendan's High School gewesen und das lange nach ihm. Aber diese weit zurückliegende Gemeinsamkeit war ein Vorbote dessen gewesen, was noch kommen sollte.
    Als er Staatsanwalt war, arbeitete ich für das gerichtsmedizinische Institut des Dade County und sagte häufig in seinen Fällen vor Gericht aus. Als er zum Senator
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