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Solomord

Solomord

Titel: Solomord
Autoren: Sandra Duenschede
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lehnte Brandt sich zurück, legte seine Füße auf den vor Akten überquellenden Schreibtisch und blickte zum Fenster hinaus. Es wurde bereits dunkel. Irgendwo da draußen befand sich Marie Priebe. Eingesperrt, vielleicht gefesselt. Seit Tagen vermutlich ohne Nahrung und Wasser. Wie lange würde das Mädchen noch durchhalten können? Wie viel Zeit blieb ihnen noch? Er seufzte leise und senkte seine Lider. Sofort erschien ihm das Bild des blonden Mädchens. Es blickte ihn flehend an. Er blinzelte heftig, doch das blasse Gesicht mit den graublauen Augen ließ sich nicht vertreiben. Wie eingemeißelt schwebte es vor seinem inneren Auge, erinnerte ihn an die Angst und Qualen, die das kleine Wesen ertragen musste. Ich muss sie finden – in seinem Kopf gab es nur diesen einzigen Gedanken, der für nichts anderes mehr Raum bot. Wie besessen stürzte er sich auf die vor ihm liegenden Akten.

    Als er aufwachte, dämmerte es bereits. Es war kurz vor sechs Uhr. Seine Glieder schmerzten, mühsam erhob er sich von seinem Schreibtischstuhl. Ich werde einfach alt, dachte er und streckte sich ausgiebig, bevor er seine Jacke nahm und das Büro verließ.
    Die Luft war frisch und klar. Brandt schwang sich auf sein Fahrrad. Die Straßen waren noch kaum belebt, die Stadt erwachte erst langsam. Nur wenige Menschen waren unterwegs, und so brauchte er sich nicht wie gewohnt durch den dichten Verkehr zu schlängeln, sondern konnte in aller Ruhe nach Hause fahren. Vorher wollte er jedoch einen kleinen Abstecher zum Rhein machen. Die frische Luft und Bewegung würden ihm nach der unbequemen Nacht im Büro sicher guttun. Und da er momentan sowieso keine Idee hatte, wo sie in dem Fall weiter ansetzen sollten, sah er die Zeit auch nicht als verloren an. Vielleicht würde ihm hier draußen eher eine Idee kommen, wo sie nach Marie Priebe suchen konnten, als in seinem stickigen Büro, dessen weiße Wände die Gedanken oftmals blockierten. Motiviert radelte er los.
    Über dem Fluss hing noch ein leichter Morgennebel. Ein Frachter tuckerte langsam durch den dünnen gräulichen Schleier flussaufwärts. Er blickte hinüber zum anderen Ufer, wo man bereits mit den Vorbereitungen für die Kirmes begonnen hatte. Das ursprüngliche Schützenfest, das jährlich Millionen von Besuchern in die Stadt lockte, galt als eine der größten Attraktionen der Rheinmetropole. Die neuntägige Kirmes fand jährlich im Juli auf der linksrheinischen Festwiese statt. In wenigen Tagen war es wieder so weit. Er würde mit Lore und seiner Mutter wie jedes Jahr zum großen Feuerwerk gehen. Bei den Gedanken an seine Tochter meldete sich plötzlich sein schlechtes Gewissen. In den letzten Tagen hatte er sich so gut wie gar nicht um sie gekümmert. Er beschloss, auf dem Heimweg frische Brötchen zu besorgen und in Ruhe mit ihr zu frühstücken.
    Im Hausflur vor den Briefkästen traf er Frau Lüdenscheidt.
    »Sie waren verreist?« Brandt blickte fragend auf den kleinen braunen Lederkoffer, den die ältere Dame in der Hand hielt.
    »Ja, für ein paar Tage. Zu meiner Schwester. Wissen Sie …« Sie stellte den Koffer ab und holte tief Luft, um ihm ausführlich von dem Verwandtenbesuch zu erzählen.
    Doch noch ehe sie richtig loslegen konnte, fuhr er dazwischen.
    »Und ich hatte mich schon gewundert, wo Sie die ganze Zeit gesteckt haben. Wollte Sie nämlich etwas Wichtiges fragen.«
    Er kam jedoch gar nicht dazu, seine Frage überhaupt zu formulieren, denn Frau Lüdenscheidt witterte sofort, dass er sich nähere Informationen zu dem straffälligen Nachbarn von ihr erhoffte. Sie trat einen Schritt näher auf ihn zu und flüsterte in verschwörerischem Ton: »Wegen dem Herrn Wagner, nicht? So ein netter junger Mann und dann so etwas!«
    Sie seufzte.
    »Dabei hat er so einen guten Eindruck auf mich gemacht. Richtig vorbildlich, hab ich gedacht, als er mir mal erzählt hat, dass er seine kranke Mutter hier nach Düsseldorf geholt hat, um sich um sie zu kümmern.«
    Er stutzte bei ihrer Äußerung.
    »Wieso, wo hat sie denn vorher gewohnt?«
    So genau wusste Frau Lüdenscheidt das auch nicht. Man wolle doch nicht zu aufdringlich sein. Das wirke immer so, als würde man seine Nachbarn ausquetschen, bemerkte sie, und er musste innerlich bei dieser Äußerung schmunzeln.
    »Ich glaube aber, er hat mal was davon erzählt, dass das Dorf seiner Mutter sowieso umgesiedelt werden sollte.«
    »Umgesiedelt?«
    »Ja, lag wohl im Abbaugebiet von Garzweiler.«

21
    Als Nils vor dem Altbau in der
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