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Solar

Solar

Titel: Solar
Autoren: Ian McEwan
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fünfzehn Minuten waren vergangen, normalerweise dauerte es höchstens fünf -, ging er seine E-Mails durch, und zwei davon ließen ihn vor Freude aufjauchzen. Die erste war von einem alten Freund, einem ehemaligen Physiker, der jetzt als Berater in Paris tätig war; er fragte im Namen eines Konsortiums von Energiekonzernen unverbindlich an, ob Beard bereit sei, »seine beträchtliche Erfahrung auf dem Gebiet grüner Technologie dafür einzusetzen, die Politik für den verstärkten Einsatz kohlendioxidfreier Kernenergie zu gewinnen«. Angeboten wurde ein Gehalt im höheren sechsstelligen Bereich, dazu ein Büro im Zentrum von London, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter und ein Dienstwagen. Na ja, sicher. Rechtfertigen ließe sich das schon. Der weltweite CO2-Ausstoß stieg immer noch an, und die Zeit wurde knapp. Es war die einzige erprobte Methode, um Strom in einem Ausmaß zu erzeugen, das den Bedarf der wachsenden Weltbevölkerung in naher Zukunft decken konnte, ohne das Problem noch weiter zu verschärfen. Viele angesehene Umweltschützer waren inzwischen der Ansicht, dass Kernenergie der einzige Ausweg sei, das geringere von zwei Übeln. James Lovelock, Stewart Brand, Tim Flannery, Jared Diamond, Paul Ehrlich. Alle vertrauenswürdig und vom Fach. War angesichts der neuen Lage eine gelegentliche Panne, ein örtlich begrenztes Strahlungsleck, wirklich das schlimmste denkbare Ereignis? Die Verbrennung von Kohle war Tag für Tag ein Desaster mit globalen Auswirkungen, ohne dass es erst zu einer Panne kommen musste. Hatte sich die 28 -Kilometer-Sperrzone um Tschernobyl nicht zur biologisch vielfältigsten Region Zentraleuropas entwickelt, ohne dass die Mutationsraten über alle Spezies in Flora und Fauna hinweg nennenswert über dem Durchschnitt lagen? Ja war Strahlung letztlich nicht bloß ein anderes Wort für Sonnenlicht?
    Die zweite E-Mail lud ihn zu einem Vortrag vor den versammelten Außenministern auf dem großen Klimagipfel im Dezember in Kopenhagen ein. Er passte gut ins Bild, wie er fand, war genau die richtige Wahl. Einladung akzeptiert. Die Vorspeise kam, orangegelber Käse im Teigmantel, paniert und frittiert, dazu ein blassgrüner cremiger Dip. Eine perfekte Mahlzeit, in üppiger Menge. Sobald keine Kellnerinnen mehr in der Nähe waren, schenkte er sich den Rest seines Genevers ein. Er aß zügig, hatte nur noch drei Teigtaschen übrig und fragte sich gerade, ob einige dieser Rhomben nicht mit Pilzen statt Käse gefüllt waren, als der Palmtop neben seinem Teller zu vibrieren begann. »Toby.«
    »Hör zu. Ich habe jede Menge schlechte Nachrichten für dich, aber das Schlimmste ist gerade eben passiert, vor ein paar Minuten.«
    Beard bemerkte die mühsam unterdrückte Feindseligkeit in der Stimme seines Freundes.
    »Erzähl.«
    »Jemand ist mit einem Schmiedehammer auf die Paneele losgegangen. Gründliche Arbeit. Kein einziges mehr intakt. Die Katalysatoren auch. Die ganze Elektronik. Alles im Eimer.«
    Das durfte doch nicht wahr sein. Beard schob seinen Teller von sich. Der Täter war garantiert einer vom Bau. Was mochte Barnard ihm dafür gezahlt haben? Zweihundert Dollar? Weniger?
    »Was noch?«
    »Wir werden uns nie mehr wiedersehen. Ich glaube nicht, dass ich deinen Anblick noch ertragen kann, Michael. Aber warum solltest du es nicht wissen: Ich habe Kontakt mit einem Anwalt in Oregon aufgenommen. Ich werde Maßnahmen ergreifen, um nicht für deine Schulden aufkommen zu müssen. Wir, nein, du stehst mit dreieinhalb Millionen in der Kreide. Die Show morgen kostet noch mal eine halbe Million. Da kannst du allein hingehen und allen Gutgläubigen erklären, was los ist. Braby wird dir alles abknöpfen, was du hast und jemals haben wirst. Und der Vater dieses toten Jungen in England hat die Behörden dazu veranlasst, Anklage wegen Diebstahls und Betrugs gegen dich zu erheben. Ich hasse dich, Michael. Du hast mich belogen, du bist ein Dieb. Doch eine Haftstrafe wünsche ich dir trotzdem nicht an den Hals. Halt dich von England fern. Verzieh dich in irgendein Land, mit dem es kein Auslieferungsabkommen gibt.«
    »Sonst noch was?«
    »Nur noch eins. So ziemlich alles, was dir jetzt bevorsteht, geschieht dir recht. Leck mich am Arsch.« Und damit hatte Hammer aufgelegt.
    Diesmal versteckte Beard den Flachmann nicht, als er ihn über seinem Glas schüttelte. Zwei Tropfen kamen noch. Die Kellnerin stand mit einem vollen Teller neben ihm. Ein ernster Teenager mit züchtigem Pferdeschwanz und einer mit bunten
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