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Solar

Solar

Titel: Solar
Autoren: Ian McEwan
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und er fragte sich, wie und wo sie alle schlafen sollten und was er sich würde anhören müssen, worauf seine Gedanken sich aufbäumten wie ein nervöses Pferd und sich einem anderen Thema zuwandten. Alkohol. In dem Restaurant auf der anderen Straßenseite gab es keinen. Er griff in ein Fach seines Koffers und zog einen mit Kalbsleder bezogenen silbernen Flachmann hervor, gefüllt mit holländischem Gin, Genever, der sich gut bei Zimmertemperatur trinken ließ und äußerlich nicht von Wasser zu unterscheiden war. Er nahm einen Schluck und steckte die Flasche ein. An der Tür blieb er stehen, nahm noch einen größeren Schluck und trat ins Freie.
    Jedes Mal ein köstlicher Moment, den es zu genießen galt und der auf den britischen Inseln nie zu haben war: geduscht, parfümiert und in frischen Kleidern aus einem klimatisierten Raum in die laue Abendwärme des Südens hinauszutreten. Die Zikaden oder Grillen - er würde den Unterschied nie begreifen - zirpten auch im künstlichen Neonlicht der winzigen Lordsburger Einkaufsmeile weiter. Kein Geld der Welt konnte sie zum Schweigen bringen. Und auch nicht den Halbmond, der gestochen scharf über der Tankstelle hing, am Aufgehen hindern - so wenig wie er sich sichelweise vermarkten ließ.
    Heute Abend jedoch war sein Vergnügen getrübt. Zehn Meter vom Eingang zu seinem Motelzimmer entfernt parkte ein schwarzer Lexus, und soeben setzte sich Barnard hinter das Steuer. An der Beifahrerseite wartete mit der Reisetasche zu seinen Füßen Tarpin. Während er den Schlag öffnete, bemerkte er Beard und grinste schief, machte aus seinem Zeigefinger ein Messer und zog es sich quer über die Kehle. Der Motor sprang an, die Scheinwerfer leuchteten auf, Tarpin stieg mit seinem Gepäck ein, der Wagen setzte rückwärts aus seiner Lücke und verließ das Gelände. Verblüfft sah Beard ihnen nach und blieb auch noch wie angewurzelt stehen, als die beiden verschwunden waren. Schließlich zuckte er die Schultern und ging zur Rezeption; die Dame am Eingang sollte Melissa ausrichten, wo er zu finden war. Dann überquerte er die Straße und trat mit halbwegs wiederhergestellter guter Laune ins Blooberry. So schnell ließ er sich nicht unterkriegen.
    Für ihn stand fest, dass es in den Vereinigten Staaten kein besseres oder erfreulicheres Esslokal gab als das Blooberry Family Restaurant - Spezialität: ein Frühstück mit Steakpfanne. Auf einem Tisch am Eingang lagen Traktate der Mennoniten aus, die das Interesse des ahnungslosen Atheisten wecken und ihm Unterweisung verheißen sollten. »Ein glückliches Heim«, »Eine liebevolle Ehe« und - schon eher sein Fall - »Für die Erde sorgen«. Neben der Kasse war ein Geschenkshop, wo er in den letzten achtzehn Monaten mindestens zwei Dutzend T-Shirts für Catriona gekauft hatte. Der Gastraum war riesig, die munteren Kellnerinnen sahen alle aus wie nahe Verwandte von Darlene. Polizisten aßen hier nach Dienstschluss, Grenzschützer, Lkw-Fahrer, aber auch hohläugige Alleinreisende und natürlich ganze Familien: hispanische, asiatische, weiße Großfamilien speisten an drei oder vier zusammengeschobenen Tischen. Doch selbst bei Hochbetrieb wirkte das Blooberry gediegen, gedämpft, als sehne es sich nur insgeheim nach einem Drink. Die Atmosphäre war wohltuend anonym. Nicht ein einziges Mal hatte die freundliche Belegschaft ihn wiedererkannt, obwohl er ein Stammkunde war. Die Interstate 10 war nicht weit, es herrschte eine hohe Fluktuation.
    Das Essen hier sagte ihm zu. Während er wartete, dass man ihm einen Platz anwies, brauchte er nicht lange zu überlegen, was er nehmen sollte - er aß hier immer dasselbe. Sinnlos, davon abzuweichen. Man führte ihn an einen Tisch in der hintersten Ecke. Um seine Ungeduld bis zum Eintreffen der Vorspeise zu beschwichtigen, kippte er einen anständigen Schluck Gin in sein leeres Wasserglas, trank ihn runter wie Wasser und genehmigte sich gleich noch einen. Eigentlich war alles schrecklich, aber so schlecht fühlte er sich gar nicht. Immerhin war dieser Terry aus der Welt geschafft. Oder war das doch nicht so gut? Melissa oder Darlene, so ein Mist aber auch. Er konnte das nicht - unerträglich, darüber nachzudenken. Trotzdem würde er sich dem stellen müssen. Und der arme Toby. Eigentlich sollte er ihn anrufen und ihm erklären, warum die Vorführung morgen durchgezogen werden musste, doch im Augenblick war er noch einer Auseinandersetzung nicht gewachsen.
    Damit sich das Warten nicht so in die Länge zog -
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