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Solar

Solar

Titel: Solar
Autoren: Ian McEwan
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unangenehme Erinnerung an Melissas Lover. In London war es schon spät, er schuldete ihr einen Anruf. Aber jetzt war nicht der Moment.
    Zu den erhebenden Marschklängen von >Yellow Submarine< schlenderte er auf die Tribüne zu, die sich vor dem Strauchwerk und den palmillas erhob. Genau in der Mitte hockte eine einsame Gestalt, in der Beard sofort einen englischen Landsmann erkannte. Lag es an der Zigarette, an den schmalen Hängeschultern, an den grauen Socken und schwarzen Lederschuhen, am Fehlen von Kopfbedeckung und Sonnenbrille? Zu seinen Füßen eine kleine Reisetasche, saß der Mann nach vorn gebeugt, das Kinn in die Hand gestützt, den Blick nicht auf die Musiker gerichtet, sondern über sie hinweg in Richtung der Gila Hills. Rodney Tarpin, natürlich. Sein alter Freund. So weit gereist, um abzurechnen. Nach dem ersten Schreck des Wiedererkennens und einigen Minuten des Zögerns beschloss Beard, zu ihm zu gehen; bestimmt war es besser, ihm jetzt zu seinen eigenen Bedingungen in der Öffentlichkeit entgegenzutreten, als irgendwann von ihm überrumpelt zu werden. Darlenes Hände auf seinen Augen waren ihm eine Lehre gewesen.
    Die Tribüne war unzumutbar steil, er musste auf halber Höhe erst einmal ausruhen, bevor er die Reihe bis zur Mitte durchquerte. Tarpin spielte den Coolen; ohne den herannahenden Beard zur Kenntnis zu nehmen, zog er an seiner Zigarette und starrte weiter unverwandt geradeaus - selbst als Beard sich neben ihn setzte. Beard traute sich nicht, etwas zu sagen, ehe sein Atem sich beruhigt hatte, Tarpin aber machte immer noch keine Anstalten, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Dergestalt verliefen folgenschwere Begegnungen in so manchem Western, und Tarpin dürfte Zeit genug gehabt haben, sich einige davon anzusehen. Im Kraftraum des Gefängnisses hatte er in den vergangenen acht Jahren jedenfalls nicht viel Zeit verbracht. Er wirkte wie eingelaufen. Seine Arme und Beine waren dünn, auch von dem stolzen Bauch, der vormals über dem Gürtel des Bauhandwerkers geprangt hatte, war nicht mehr viel übrig. Sogar sein Kopf wirkte kleiner, sein Gesicht nicht mehr wie das einer Ratte, sondern wie das einer Maus; die einst neugierig Witterung aufnehmenden Nasenflügel waren erschlafft. Geblieben war ein Eindruck teilnahmsloser Wachsamkeit, den man im Dunkeln vielleicht für Gelassenheit hätte halten können. Im goldenen Licht New Mexicos jedoch sah Tarpin aus wie ein harmloses Wrack, ein Penner, der allzu gierig an seiner Zigarette sog, kaum wie jemand, der einem ins Gesicht schlagen würde. Vor Erleichterung hob sich Beards Stimmung beträchtlich. Dieser abgetakelte Knastbruder konnte ihm nichts anhaben.
    Allmählich wurde ihr Schweigen absurd. Beard brach es als Erster, energisch, als rede er mit einem begriffsstutzigen, halsstarrigen Angestellten. »Nun, Mr Tarpin. Man hat Sie offenbar entlassen. Was führt Sie hierher?«
    Tarpin drückte seine Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen aus und wandte sich endlich Beard zu. In seinen Augenwinkeln klebte ungesunde dottergelbe Schmiere. Von seinem Nasenrücken liefen geplatzte Äderchen über beide Wangen. Wenn er sprach, sah man, dass ihm ein oberer Schneidezahn fehlte, was der Gefängniszahnarzt nicht gerichtet hatte.
    »Ich dachte, wenn ich mich hier oben hinsetze, müssen Sie mich irgendwann sehen.«
    »Und?«
    »Mr Beard, ich muss mit Ihnen reden, Ihnen etwas sagen, Sie etwas fragen.«
    Langsam kroch die Angst in Beard wieder hoch. Er behielt Tarpins Hand im Auge, ebenso die Tasche zu seinen Füßen. »Na schön. Aber ich hab nicht viel Zeit.«
    Unter ihnen plagte sich die Kapelle weiter durch ihr Medley. Die Schlussakkorde von >Yesterday< gingen in die munteren Klänge - wenn auch in strengem Marschrhythmus - von >All You Need is Love< über. Kaum zu glauben, dass einst Millionen bei so biederen Liedchen in Ekstase geraten waren.
    »Dann komme ich gleich zur Sache. Erstens. Ich habe Thomas Aldous nicht umgebracht.«
    »Das haben Sie auch vor Gericht behauptet, wenn ich mich recht erinnere.«
    »Es spielt keine Rolle, ob Sie mir glauben oder nicht. Keiner glaubt mir. Ist mir auch egal, denn ich hätte ihn tatsächlich umgebracht, wenn ich auch nur die kleinste Chance dazu gehabt hätte. Das ist es ja gerade. Ich habe Patrice gesagt, sie solle es tun, wenn sie dabei nicht zu Schaden kommt. Und ich habe ihr geschworen, wenn sie es tut, gehe ich für sie in den Knast, wenn es sein muss. Sie hat nichts dazu gesagt, aber sie muss einen von meinen Hämmern
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