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Sog des Grauens

Titel: Sog des Grauens
Autoren: Bagley Desmond
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weniger als 240 Kilometer – das gibt kräftige Winde.« Wyatt zeigte auf den nördlichen Teil des Hurrikangebiets. »Nach der Theorie müßten hier Windgeschwindigkeiten bis zu 270 Kilometer pro Stunde herrschen. Nachdem ich durchgeflogen bin, habe ich keinen Grund, es zu bezweifeln – Hansen auch nicht.«
    Schelling sagte: »Das ist ein schlimmer Bursche.«
    »Das ist er gewiß«, sagte Wyatt kurz und setzte sich hin, um die Tirosfotos zu studieren. Schelling sah ihm über die Schultern. »Er scheint sich etwas zusammengezogen zu haben«, sagte er. »Das ist merkwürdig.«
    »Das macht es noch schlimmer«, sagte Schelling düster. Er legte zwei Fotos nebeneinander auf den Tisch. »Er zieht aber nicht sehr schnell.«
    »Ich hatte als Verlagerungsgeschwindigkeit dreizehn Kilometer pro Stunde errechnet – etwas mehr als dreihundert Kilometer pro Tag. Wir sollten das lieber überprüfen, es ist wichtig.« Wyatt zog eine Rechenmaschine heran, und nachdem er einige Zahlenwerte auf den Fotos geprüft hatte, hämmerte er auf die Tasten. »Das stimmt ungefähr; etwas weniger als 320 Kilometer in den letzten vierundzwanzig Stunden.«
    Schelling stieß in einem erleichterten Seufzer den Atem aus. »Na, das geht ja noch. Bei dieser Geschwindigkeit braucht er noch zehn Tage, bevor er die Ostküste der Staaten erreicht, und sie leben ja gewöhnlich nicht länger als eine Woche. Das wäre, wenn er in gerader Richtung zöge – was er nicht tun wird. Die Coriolis-Kraft wird ihn in der üblichen Parabelkurve nach Osten ablenken, und ich schätze, er wird sich irgendwo im Nordatlantik totlaufen, wie die meisten.«
    »Da sind zwei Fehler drin«, sagte Wyatt kurz. »Niemand weiß, ob er nicht schneller wird. Dreizehn Kilometer in der Stunde ist verdammt langsam für eine Zyklone in diesen Breiten – der Durchschnitt liegt bei vierundzwanzig Kilometern pro Stunde – daher ist es sehr wahrscheinlich, daß er lange genug lebt, um die Staaten zu erreichen. Und was den Coriolis-Effekt angeht, da wirken Kräfte auf einen Hurrikan ein, die ihn ohne weiteres aufheben können. Ich bin der Meinung, daß ein hoher Strahlstrom eine Menge dazu beitragen kann, einen Hurrikan abzulenken, und wir wissen verdammt wenig über Strahlströme und wann sie auftreten.«
    Schelling machte wieder ein betrübtes Gesicht. »Das Wetteramt wird nicht sehr froh sein. Wir müssen es ihnen wohl lieber melden.«
    »Das ist die andere Geschichte«, sagte Wyatt, indem er das Formular von seinem Tisch aufhob. »Ich werde meinen Namen nicht unter diesen neuesten bürokratischen Unsinn setzen. Sehen Sie sich einmal diese letzte Forderung an – ›Geben Sie Lebensdauer und erwartete Zugrichtung des Hurrikans an!‹ Ich bin doch kein Wahrsager.«
    Schelling machte ein ungeduldiges Geräusch mit seinen Lippen. »Ach, sie wollen doch nur eine Vorhersage nach der gängigen Theorie – damit geben sie sich zufrieden.«
    »Was wir an Theorie haben, füllt keinen Fingerhut«, sagte Wyatt. »Nicht die Art von Theorie, die dafür nötig ist. Wenn wir eine Vorhersage auf dieses Formular setzen, wird irgendein Beamter beim Wetteramt sie für Gottes Wort halten – die Wissenschaftler haben es gesagt, also ist es so –, und es könnte viele Leute das Leben kosten, wenn die Wirklichkeit mit der Theorie nicht übereinstimmen sollte. Denken Sie an Ione im Jahre 1955 – er änderte seine Richtung siebenmal in zehn Tagen und lief genau in die Mündung des St. Lawrence-Stroms, oben in Kanada. Er hielt alle Wetterleute in Trab und kümmerte sich kein bißchen um unsere Theorien. Ich setze meinen Namen nicht unter dieses Formular.«
    »Na schön, dann tue ich es«, sagte Schelling ungehalten. »Wie heißt denn dieser?«
    Wyatt sah auf einer Liste nach. »Wir haben es dieses Jahr schon recht weit gebracht. Der letzte war Laura – also muß dieser Mabel heißen.« Er blickte auf. »Oh, noch etwas. Wie ist es mit den Inseln?«
    »Die Inseln? Oh, wir werden ihnen die übliche Warnung schicken.«
    Als Schelling sich umdrehte und das Büro verließ, warf ihm Wyatt einen Blick hinterher, der schon fast Abscheu ausdrückte.
    ***
    An diesem Abend fuhr Wyatt die vierundzwanzig Kilometer rund um die Santego Bay nach St. Pierre, der Hauptstadt von San Fernandez. Hauptstadt war etwas zuviel gesagt, aber die Insel war ja auch nicht groß. Er fuhr in der Dämmerung an den vertrauten Bananen- und Ananaspflanzungen vorbei und an den ebenso vertrauten Insulanern am Straßenrand – die
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