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Sog des Grauens

Titel: Sog des Grauens
Autoren: Bagley Desmond
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erlebt hatte. Nun, da hatte er es geschafft, also würde er es auch hier schaffen.
    Der Stamm rührte sich nicht.
    Dawson rief, er sollte aufhören, und kam unter den Ästen herausgekrochen. Er war dicht an Julies Körper gewesen und war nun überzeugt, daß sie tot war, aber was er auch im stillen über die Nutzlosigkeit des Unterfangens dachte, es war an seinem Gesichtsausdruck keinen Augenblick zu erkennen.
    Dawson sagte: »Was hier gebraucht wird, ist Gewicht – nicht Kraft. Ich bin sechzig Pfund schwerer als Sie – es sind vielleicht nicht alles Muskeln, aber das hat nichts zu sagen. Ziehen Sie sie raus, während ich das Heben besorge.«
    »Und Ihre Hände?«
    »Es sind meine Hände, nicht? Los, kriechen Sie drunter!«
    Er wartete, bis Wyatt dort war, dann hängte er sich an den Ast und drückte ihn mit all seiner Kraft und seinem Gewicht nach unten. Er schrie fast auf vor Schmerzen in seinen Händen, und Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Der Stamm bewegte sich, und Wyatt schrie: »Halten Sie fest! Um Gottes willen, halten Sie fest!«
    Dawson wurde die Zeit zu einer Ewigkeit, er ging durch die Hölle, und für einen Bruchteil einer Sekunde überlegte er, ob er seine Hände wohl je wieder gebrauchen können würde – etwa an einer Schreibmaschine. Verdammt! knurrte er sich selbst an, ich kann jederzeit diktieren – und drückte noch fester. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Wyatt rückwärts herauskroch und etwas schleppte, und mit unbeschreiblicher Erleichterung hörte er eine schwache Stimme aus weiter Ferne sagen: »Okay, Sie können loslassen.«
    Er ließ den Ast los und sackte zu Boden. Dankbar spürte er, wie die höllischen Schmerzen in seinen Händen allmählich in eine hochwillkommene Betäubung übergingen. Mit trüben Augen beobachtete er, wie Wyatt sich über Julie beugte, ihre Bluse aufriß und sein Ohr an ihre Brust legte. Und es war fast ein Schock für ihn, als er ihn freudig rufen hörte: »Sie lebt! Sie lebt noch! Es schlägt schwach, aber es schlägt.«
    Es dauerte lange, bis sie einen Hubschrauber herangewinkt hatten, aber als es ihnen gelungen war, ging alles schnell. Die Maschine blieb schwirrend über ihnen stehen und wirbelte Staub auf, während Wyatt über Julie lag und sie gegen den Wind vom Rotor schützte. Ein Mann wurde an einer Winde heruntergelassen und sprang auf den Boden, und Dawson rannte zu ihm hin. »Wir brauchen einen Arzt.«
    Der Mann lächelte kurz. »Ich bin Arzt – wo fehlt es?«
    »Dieses Mädchen.« Er führte ihn zu Julie, und der Arzt ließ sich auf ein Knie nieder und holte ein Stethoskop heraus. Nach einigen Sekunden suchte er in einem Behälter an seiner Hüfte und entnahm ihm eine Spritze und eine Ampulle. Während Wyatt ihn ängstlich beobachtete, gab er Julie eine Injektion. Dann winkte er den Hubschrauber wieder heran und gab über ein Mikrophon an dem baumelnden Aufzug knappe Anweisungen.
    Der Aufzug wurde hochgezogen, und gleich daraufkam ein zweiter Mann herunter und brachte eine zusammengelegte Bahre und ein Bündel Schienen mit, und der Hubschrauber entfernte sich wieder, um in der Nähe zu kreisen. Julie wurde behutsam in ein System von Schienen eingebunden und erhielt eine weitere Injektion. Wyatt fragte: »Wie steht … wird sie …?«
    Der Arzt sah auf. »Wir sind gerade noch zurechtgekommen. Sie wird durchkommen, wenn wir sie schnellstens von hier wegschaffen.« Er winkte dem Hubschrauber, der wieder herankam, und Julie wurde auf der Bahre hochgezogen.
    Der Arzt musterte sie. »Kommen Sie mit?« Er sah Dawson an. »Was ist mit Ihren Händen los?«
    »Welche Hände?« fragte Dawson mit klirrender Ironie. Er streckte die verbundenen Pfoten vor. »Sehen Sie, Doktor! Keine Hände!« Er begann hysterisch zu lachen.
    Der Arzt sagte: »Sie nehmen wir lieber mit.« Er sah Wyatt an. »Und Sie auch; Sie sehen zu Tode erschöpft aus.«
    Sie wurden nacheinander hochgezogen. Dann folgte der Arzt und klopfte dem Piloten leicht auf die Schulter. Wyatt saß neben der Bahre und betrachtete Julies weißes Gesicht. Er überlegte, ob sie einen Mann heiraten würde, der sie im Stich gelassen hatte, der sie allein dem Tod in dem Sturm ausgesetzt hatte. Er bezweifelte es – aber bitten würde er sie.
    Er starrte verloren hinunter auf die entschwindenden Berge und auf die weiten Wasserflächen im überfluteten Negrito-Tal und spürte auf einmal etwas an seiner Hand. Er drehte sich schnell um und sah, daß Julie wach war und daß sie seine Hand berührte.
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