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Sog des Grauens

Titel: Sog des Grauens
Autoren: Bagley Desmond
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Er sagte zu Dawson: »Sie leben alle, aber sie brauchen Pflege. Sie haben keinen anderen Wunsch, als zu überleben, und sie wissen noch nicht, daß sie überlebt haben.«
    »Ist das der Katastrophenschock?«
    »Das ist er«, sagte Wyatt. »Ich habe es nie vorher erlebt; ich habe nur in Berichten über Hurrikane darüber gelesen. Ein Mensch braucht eine größere Aufgabe, als nur einfach zu überleben, wenn er ihm nicht verfallen will – eine Aufgabe wie die dort.« Er zeigte auf die absteigenden Soldaten. »Kommen Sie weiter! Wir können hier nichts tun, das können Favels Männer besser. Wir wollen bis zum Wasser hinuntergehen und dann im Tal hinauf.« Am Rande des Wassers fanden sie die ersten Leichen. Es waren Ertrunkene, die am Ufer dieses merkwürdigen neuen Sees angespült worden waren. Und sie trafen dort auch die ersten Überlebenden, die noch einen Funken von zweckvollem Leben enthielten: einige Männer und Frauen, die aufgeregt suchten, wahrscheinlich nach Familienangehörigen. Sie liefen herum wie Traumwandler, und als Wyatt sie ansprach, wollten – oder konnten – sie nicht antworten. Er gab es auf und sagte: »Wir wollen zu der Stelle hinaufgehen, wo nach dem Bericht des Soldaten die weiße Frau gesehen wurde.«
    Es war eine schauerliche Wanderung. Als sie etwa einen Kilometer gegangen waren, sah Dawson sich um und sagte: »Wie fürchterlich! Was für fürchterliche Bilder!« Er zeigte auf eine Frau, die ein Kind im Arm hielt; das Kind war offensichtlich tot – der Kopf hing unnatürlich auf einer Seite herab wie der einer beschädigten Puppe –, aber die Frau schien das noch nicht wahrgenommen zu haben. »Was kann man in so einem Fall tun?« fragte er.
    »Wir können gar nichts tun«, sagte Wyatt. »Es ist am besten, das ihrer Familie zu überlassen.«
    Dawson sah am Hang entlang. »Aber es sind Tausende hier – was kann ein Regiment ausrichten? Es gibt keine Medikamente, keine Ärzte, und es steht kein Krankenhaus mehr in St. Pierre. Viele von diesen Menschen werden jetzt noch sterben.«
    »Auf der anderen Seite des Tales sind auch noch viele«, sagte Wyatt und zeigte über das Wasser. »So sieht es im ganzen Negrito-Tal aus – auf beiden Seiten.«
    Auf dem Hang begann es sich langsam ein wenig zu regen, als es den Einwohnern von St. Pierre allmählich dämmerte, daß die Qual überstanden war. Favels Leute waren jetzt unter ihnen, aber sie konnten nicht viel mehr tun, als die Toten von den Lebenden scheiden, und diejenigen mit genügend Kenntnissen in erster Hilfe waren vollauf beschäftigt mit dem Schienen von gebrochenen Gliedern.
    Wyatt sagte verzagt: »Wie sollen wir einen Menschen unter dieser Menge finden?«
    »Julie ist weiß«, sagte Dawson. »Sie müßte auffallen.«
    »Viele von diesen Leuten sind genauso hell wie wir«, sagte Wyatt trübe. »Lassen Sie uns weitergehen.«
    Sie hielten sich wieder an den Berghang, wo ein Flutausläufer weiter landeinwärts kam, und Wyatt blieb andauernd stehen, um die wacher erscheinenden Überlebenden zu fragen, ob sie eine weiße Frau gesehen hätten. Manche antworteten nicht, andere fluchten, und andere sprachen langsam und unzusammenhängend – aber niemand wußte etwas von einer weißen Frau. Einmal schrie Wyatt: »Dort ist sie!« rannte ein Stück bergab und packte eine Frau am Arm. Sie drehte sich um und sah ihn an. Sie hatte die kremfarbene Haut einer Octavonin. Wyatt ließ ihren Arm enttäuscht fallen.
    ***
    Endlich kamen sie an ihrem Ziel an und begannen mit einer systematischeren Suche. Sie stiegen am Hang auf und ab und sahen sich jede Menschengruppe genauer an. Sie suchten fast eine Stunde und fanden weder Julie noch sonst eine weiße Person, weder Mann noch Frau. Dawson war übel von den Bildern, die er sah, und er schätzte, daß da, wenn das, was er gesehen hatte, ein repräsentativer Querschnitt war, tausend Tote allein auf der einen Seite des Negrito waren – und die Verletzten waren nicht zu zählen. Die Menschen schienen nicht fähig zu sein, sich selbst von dem Schock zu befreien, in den sie verfallen waren. Die Luft war erfüllt von dem Stöhnen und Schreien der Verletzten, während die Gesunden einfach dasaßen und vor sich hin starrten oder im Schildkrötentempo ziellos umherwanderten. Nur ganz wenige schienen genug Initiative zurückgewonnen zu haben, um den Berg zu verlassen oder bei den Rettungsarbeiten zu helfen.
    Wyatt und Dawson trafen sich wieder, und Dawson schüttelte betrübt den Kopf auf Wyatts verzweifelt
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