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Sog des Grauens

Titel: Sog des Grauens
Autoren: Bagley Desmond
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vergeben oder nicht einmal merken, daß da etwas zu vergeben war, aber er würde sich selbst nie vergeben.
    Und dann erstickte der Hurrikan alle Gedanken, und er lag träge dort und wartete geduldig auf den Augenblick, da er aufstehen und sich betätigen dürfte: ins Tal hinuntersteigen und nach dem einen Menschen suchen, den er vor allen anderen in der Welt geborgen wissen wollte – Julie Marlowe.
    Der Hurrikan erreichte seinen Höhepunkt um elf Uhr vormittags, und von dem Zeitpunkt an ließ die Windstärke ganz langsam nach. Wyatt wußte, daß die Windgeschwindigkeit nicht plötzlich abfallen würde wie bei der Pause, als das Auge des Hurrikans über die Insel zog; der Sturm würde im Laufe von Stunden allmählich abflauen, und es würde noch für lange Zeit recht böig bleiben.
    Erst um drei Uhr nachmittags konnte man es wagen aufzustehen, und auch dann war es noch gefährlich, aber Wyatt war nicht geneigt, noch länger zu warten. Er sagte zu Dawson: »Ich gehe jetzt ins Tal hinunter.«
    »Halten Sie es schon für sicher?«
    »Sicher genug.«
    »Okay«, sagte Dawson und richtete sich auf. »In welche Richtung gehen wir?«
    »Es wird das beste sein, gerade hinunterzugehen und dann weiter unten am Hang entlang.« Wyatt drehte sich um und sah in die Richtung zu Delormes Deckungsloch. »Ich will erst noch einmal mit dem Offizier dort drüben sprechen.«
    Sie gingen vorsichtig am Hang entlang, und Wyatt beugte sich zu Delorme und brüllte ihm zu: »Warten Sie noch eine Stunde, bevor Sie Ihre Leute ausschicken.«
    Delorme sah auf. Sein Gesicht war müde, und seine Stimme klang heiser, als er sagte: »Gehen Sie jetzt hinunter?«
    »Ja.«
    »Dann gehen wir auch«, sagte Delorme. Er erhob sich und suchte in seiner Tasche. »Die Leute dort unten können vielleicht keine Stunde mehr warten.« Er blies schrill auf einer Pfeife, und langsam wurde es lebendig auf dem Berg, als seine Leute aus Löchern und Spalten auftauchten. Einer seiner Sergeanten kam heran, und Delorme rasselte eine Reihe von Anweisungen herunter.
    Wyatt sagte: »Ich würde beim Abstieg vorsichtig sein – es ist nicht schwer, sich ein Bein zu brechen. Wenn Sie irgendwo Weiße antreffen sollten, würde ich das gern erfahren.«
    Delorme lächelte. »Favel sagte, wir sollten uns nach einer Miß Marlowe umsehen. Er sagte, Sie machten sich Sorgen um sie.«
    »Tatsächlich?« sagte Wyatt überrascht. »Woher wußte er das wohl?«
    »Favel weiß alles«, sagte Delorme voll Stolz. »Ihm entgeht nichts. Ich glaube, er hatte mit dem andern Engländer gesprochen – mit Causton.«
    »Ich werde mich bei ihm bedanken müssen.«
    Delorme schüttelte den Kopf. »Wir schulden Ihnen soviel, ti Wyatt; was könnten wir sonst tun? Wenn ich Miß Marlowe finde, bekommen Sie Bescheid.«
    »Danke.« Wyatt sah Delorme an und erkannte, daß er seine Meinung geändert hatte. »Und ich werde Sie bestimmt auf Ihrer Plantage besuchen. Wo war sie noch?«
    »Oben im Negrito-Tal – in La Carrière.« Delorme grinste. »Aber warten Sie, bis ich aufgeräumt und neu gepflanzt habe – es wird jetzt dort nicht schön aussehen.«
    »Ich werde so lange warten«, versprach Wyatt und ging dann.
    Der Abstieg war nicht leicht. Der Wind zerrte wütend an ihnen, und die Oberfläche war während der schlimmsten Stunden des Sturms gelockert worden, so daß sich leichte kleine Erdrutsche bildeten. Es gab viele umgestürzte Bäume zu umgehen und klaffende Löcher, wo Bäume ausgerissen worden waren. Es dauerte dreiviertel Stunden, bis sie auf die ersten Überlebenden stießen, eine Gruppe von aneinandergeschmiegten Leibern in einer kleinen Bodenvertiefung. Der Sturm tobte immer noch, und sie hatten sich noch nicht gerührt.
    Dawson sah sie entsetzt an. »Sie sind tot«, sagte er. »Sie sind alle miteinander tot.«
    Wyatt ging hinunter und schüttelte die erste erreichbare Schulter. Langsam hob der Mann den Kopf und sah Wyatt ausdruckslos an, und als Wyatt losließ, rollte er sich wieder zusammen. »Die sind schon in Ordnung«, sagte Wyatt. »Wir wollen weiter. Die Soldaten werden sich um sie kümmern.«
    Dawson sah hinauf. »Sie kommen jetzt dort oben.« Er zeigte durch die kahlen Bäume auf eine lange Kette von Männern, die den Berg herunterkamen.
    Sie gingen weiter hinunter und sahen immer mehr Menschen, eine Streu von Leibern zwischen den Bäumen. Sie sahen aus wie Bündel alter Kleider, die jemand achtlos weggeworfen hatte. Niemand von ihnen rührte sich, und ab und zu sah Wyatt genauer nach.
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