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Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten
Autoren: Clemens J. Setz
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einschlug? Aber die Wände da unten waren weich, es würde schon ohne großen Krach gehen.
    Er schlich aus dem dunklen Schlafzimmer in den schmalen Vorraum, wo Mäntel, Jacken und aufgeblähte Rucksäcke wie Insektenlarven an der Wand hingen. Er zog die Hausschuhe an und stieg über die Wendeltreppe hinunter in den Keller. Eine 100-Watt-Glühbirne, die nackte und leidenschaftslose Abstraktion einer Lampe, hüllte den Kellerraum in grellgraues Licht. Die Dartscheibe lagerte zuoberst in einem großen Bücherregal aus Metall, das er einmalgünstig bei einem Garagenverkauf erstanden hatte. Es stammte aus einer aufgelösten Blindenbibliothek und roch stark nach Desinfektionsmittel.
    Sehr dumm, die kleine Stehleiter war oben, im Zimmer seines Sohnes. Lieber nicht stören. Den armen, kleinen Sklaven seiner Atmung.
    Templ versuchte, seinen Körper in die Höhe zu strecken, aber er gelangte gerade einmal bis zum vorletzten Regalboden, auf dem giftige Farbdosen standen und ihre Etiketten abschwitzten. Er blickte sich nach etwas um, auf das er sich stellen könnte. Es gab einen kaputten Sessel, ein Fahrrad und einen großen Gesundheitsball aus Gummi. Einen alten, einsturzgefährdeten Fernseher. Eine Familie zusammengerollter Landkarten.
    Nichts zu machen.
    Er versuchte es noch einmal aus dem Stand, streckte sich und balancierte auf einem Fuß, auf den Zehen, aber diesmal langte er überraschenderweise nur mehr bis zu dem Stapel Modemagazine, auf die von oben Farbe getropft war. War er plötzlich geschrumpft? Er hüpfte einige Male auf und ab, knackte mit seinen Gelenken und rotierte mit den Armen.
    Als er es nach diesen Übungen ein drittes Mal versuchen wollte, erschrak er, da er schon beim vorsichtigen Näherkommen erkannte, dass er tatsächlich kleiner geworden war. Er reichte jetzt nicht einmal mehr bis zu den Magazinen. Er war nicht viel größer als sein Sohn! Schnell blickte er an sich herunter, untersuchte seinen Körper, tastete sich ab, aber er fand keine Erklärung. Er schüttelte den Kopf, gab sich eine konzentrierte Ohrfeige und versuchte es noch einmal, streckte sich, so gut es ging, aber sank wieder nur um einige Zentimeter zurück. Panik erfasste ihnund er flüchtete aus dem Keller zurück in die Wohnung, wo es um einiges wärmer war, wie er verwirrt und nur mit halber Aufmerksamkeit feststellte. Als er am Spiegel im Vorzimmer vorbeikam, traute er sich nicht hineinzusehen. Zurück im Bett kugelte er sich eng zusammen und versteckte den Kopf unter der Decke. Er hasste die Nacht und die unsinnigen Zaubertricks, die sie sich mit den Menschen, ihren willenlosen Kulturmarionetten, erlaubte.

2
Luft
    Mit ungewöhnlich leiser Stimme bat der Arzt Vater und Sohn ins Behandlungszimmer.
    Zuerst saß das Kind eine Zeitlang unschlüssig auf dem Behandlungstisch – oder wie man dieses Metallgestell sonst nennen mochte –, dann endlich kam der Arzt. Er war ein Mann um die Fünfzig, zu seinen Requisiten gehörten halbtransparente Handschuhe und ein Stethoskop, das ihm wie ein Kopfhörer lässig um den Hals hing.
    Einatmen, ausatmen.
    Langsamer einatmen. Halten. Ausatmen.
    Und jetzt husten.
    Templ betrachtete gelangweilt das Behandlungszimmer. Hin und wieder traf sein Blick den seines Sohnes, der unerhört vorwurfsvoll war. Das Gesicht des Kindes ähnelte auf unerträgliche Weise dem eines alten Mannes, der gezwungen wird, etwas zu tun, was eine Menge unangenehmer Erinnerungen heraufbeschwört. Kevin atmete aus, er atmete wieder ein, er hustete künstlich – währenddessen fixierte er seinen Vater.
Sieh nur. Sieh, was er von mir verlangt!
    Ich bin keine große Hilfe, dachte Templ und las zum vierten Mal den Text auf einem großen Werbeposter:
Mens Sana
. Darunter war ein fröhlich lächelndes Gehirn gezeichnet.
    Da er wegsah, hörte das Kind wieder zu husten auf. Er fühlte sich gerädert, er hatte sehr schlecht geschlafen,alles war ihm zu laut, zu grell. Scheußliche Träume hatten einander in der Nacht abgewechselt.
    Der Arzt führte Vater und Sohn in einen angrenzenden Raum, wo die Lungenfunktion gemessen werden sollte. Dort stand neben anderen rätselhaften Installationen ein mittelgroßer Glaskasten, ähnlich einer Dolmetscherkabine.
    – Was jetzt wichtig wäre, sagte der Arzt: dass du, Kevin, da drinnen bleibst … nur für zehn Minuten, die sind gleich vorbei … und in dieses Mundstück atmest, ganz natürlich, nicht übertrieben.
    Kevin trat entsetzt von dem Glaskäfig zurück. Er blickte hilfesuchend zu seinem
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