Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten
Autoren: Clemens J. Setz
Vom Netzwerk:
geh zu deinem Kind. Aber sie blieb vor ihm stehen. Sie wollte anscheinend irgendein Geständnis von ihm hören. Dann, Gott sei Dank, rief Kevin nach ihr und sie lief die Treppen zu seinem Zimmer hinauf.
    Templ flüchtete in sein Arbeitszimmer und setzte sich hinter den Schreibtisch. Seine Hände zitterten. Wieder war alles auf so schrecklich bedrängende Weise da: vier Wände, ein Zimmer, Fenster.
    Räume: Würfel, in die man sich flüchten konnte oder in die man gesperrt wurde. Einen anderen Unterschied gab es nicht.
    Dann klopfte es, wie so oft in der letzten Zeit. Templ eilte zur Tür und drückte die Schnalle nach oben.
Non serviam
. Er würde sich wehren. Keine Ungerechtigkeiten mehr. Und tatsächlich versuchte seine Frau, die Schnalle niederzudrücken. Da sie seinen Widerstand spürte, versuchte sie es mit aller Kraft. Templ strengte sich sehr an, sie draußen zu halten, dabei ging er sogar in die Knie und stemmte mit seinen Schultern. Es gelang ihm. Seine Frau gab auf.
    Triumphierend ging er zurück zum Schreibtisch, da drehte sich der Raum plötzlich um ihn. Der Schwindel machte das Zimmer höher, verzerrte die geraden Linien der Leisten und Bilderrahmen, warf Falten in die Tapeten. Die Decke war auf einmal viel zu hoch. Am Schreibtischsessel angekommen stellteer fest, dass er nicht mehr hinaufkam, sein Becken war zu niedrig – also kletterte er auf den Sessel, wie man zum ersten Mal auf ein Reitpferd klettert: mit allen Vieren strampelnd wie ein Käfer. Schließlich hatte er es geschafft. Das Schwindelgefühl war noch stärker geworden. Er musste sich ausruhen, sofort, auf der Stelle – er kletterte auf den Schreibtisch und legte sich hin. Seltsam, er war nicht zu groß, um sich auszustrecken. Es fühlte sich nicht falsch an, hier zu liegen, im Gegenteil, es war beinahe angenehm.
    Eine Schublade stand offen.
    Wie im Traum ließ er sich von der Tischplatte in die offen stehende Schublade fallen, indem er sich einfach auf die Seite rollte. Er landete neben einem Buch, das er sich vor längerer Zeit geborgt hatte. Alle geborgten Bücher kamen bei ihm in die Schublade. »Der Mensch im Futteral« – ausgewählte Erzählungen von Anton Tschechow. Auch hier war es sehr eng, so wie im Glaskäfig heute Vormittag … nur war die Enge jetzt sehr angenehm.
    Er strich über die riesigen erhabenen Buchstaben des Bucheinbands. Sie waren ein wenig pelzig und fühlten sich gut an. Besonders das große M.
    Ein Ruck ging durch seinen Körper – er ließ das M los.
    Sein Kopf stieß an die hölzerne Innenwand der Schreibtischschublade. Er versuchte, sich ruhig zu halten. Wie er genau lag, wusste er nicht. Sein Körpergefühl hatte sich im Schwindel aufgelöst. Nach einer Weile schlief er ein. Es war die natürliche Folge: Nach großen Anstrengungen wurde er jedes Mal schwindlig, dann todmüde.
    Templ erwachte blinzelnd in einem großen Fensterquadrat aus Sonnenlicht, das quer über der Flanke des Schreibtischs lag. Seine Stirn war warm. Er betastete sein Gesicht, kniff die Augen fest zusammen, da das Licht ihn blendete. Ein Gähnen kündigte sich an. Mühsam kämpfte er es nieder und seine Kiefer verkrampften sich.
    Zum Ausgleich versuchte er noch einmal zu gähnen, aber es funktionierte nicht mehr. Er schnitt eine Grimasse.
    Er trat, er schälte sich hervor … und fiel und purzelte, ein Knäuel aus winzigen Gliedern, auf den Teppich, der sein Fallgeräusch dumpf schluckte. Er fühlte sich jung und empfangen, wie frisch geschlüpft.
    Er betastete sich gedankenverloren. Der Raum war wieder von normaler Größe. Unter ihm lagen die Reste der zerbrochenen Schublade.
    Etwas unsicher ging er im Zimmer umher. Was war geschehen? Er versuchte sich zu erinnern, aber alles, was er noch wusste, war der Titel des Buches, neben dem er geschlafen hatte. »Der Mensch im Futteral«. Er musste den Titel im Schlaf unzählige Male hintereinander gelesen haben. Er hing in seinem Gedächtnis fest, wie ein Ohrwurm, nur visuell.
    Er sah sich um. Boden … Wände … Decke. Das alte Zimmer. Er trat ans Fenster. Die Straße war völlig ruhig. Er öffnete das Fenster und setzte sich auf das Fensterbrett. Da entdeckte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Gestalt, die sich seltsam fortbewegte. Ein Betrunkener? Sie hüpfte auf und ab, sprach mit sich selbst und klatschte immer wieder laut in die Hände, als wollte sie Insekten verscheuchen. Jetzt erkannte Templ die Gestalt und erschrak.Vor ein paar Tagen, als er von einem kurzen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher