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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen
Autoren: Willi Fährmann
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Schließlich waren fast alle anderen gegangen. Auch Frau Brüggen war irritiert. Warum war ihre Schwester Cilli nicht gekommen? Hatte sie die Nachricht nicht erreicht, dass die Mädchen zurückkommen würden?
    Eine Frau, die nicht weit von den Zarskis entfernt wohnte, stand noch am Rand des Platzes und schaute zu ihnen herüber. Frau Brüggen ging zu ihr. »Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Frau Zarski, meine Schwester, ihre Kinder nicht abholt?«
    »Das ist eine ganz traurige Geschichte«, sagte die Frau leise. »Cillis Mann, der Heinz, ist vor vierzehn Tagen krank aus der Gefangenschaft nach Hause gekommen. Todkrank. Ein paar Tage später ist er gestorben. Vorgestern haben wir ihn beerdigt. Cilli ist ganz durcheinander. Als ich sie vorhin abholen wollte, um zusammen mit ihr zum Bahnhof zu gehen, hat sie gesagt: ›Soll ich ihnen gleich dort sagen, dass dieser verdammte Krieg ihren Vater umgebracht hat? Nicht vor all den glücklichen Leuten. Meine Schwester Lene wird sie wohl herbringen. Ich zittere schon, wenn ich daran denke, dass ich den Kindern sagen muss, dass ihr Vater tot ist.‹«
    Frau Brüggen war blass geworden. »Ausgerechnet mein Schwager Heinz, der Hitler und den Krieg gehasst hat, ausgerechnet der ist für diesen Wahnsinn gestorben? Es gibt keine Gerechtigkeit mehr auf der Welt.«
    »Cilli hat übrigens im Nachbarhaus im ersten Stock zwei Zimmer zugewiesen bekommen. Das ist das Haus direkt links neben dem Trümmerberg, der von dem alten Haus übrig geblieben ist.«
    Frau Brüggen ging zu ihren Nichten und zu den Mohrmanns zurück.
    »Eure Mutter konnte nicht kommen«, sagte sie zu Irmgard und Ruth. »Frau Schwarz hat mir gesagt, dass es ihr nicht gut geht.«
    »Ist sie krank?«, fragte Ruth erschrocken.
    »Nein, nein. Ich bringe euch nach Hause. Sie wird euch selbst den Grund sagen.«
    Die Frau winkte Frau Brüggen noch einmal zu sich. Zuerst brachte sie kein Wort heraus, doch dann sagte sie: »Wir alle dachten, Anna und Lydia sind in Österreich umgekommen. Die Mohrmanns haben schon vor Wochen die amtliche Nachricht vom Tod ihrer beiden Töchter erhalten.
    »Amtliche Nachricht?«, fragte Frau Brüggen entsetzt.
    »Einige Jungen aus unserem Stadtteil waren wohl auch in der Nähe von Maria Quell in einem Lager untergebracht. Die sollen die fünfzehn toten Mädchen am Straßenrand gefunden haben. Einer hat sich die Namen der Toten aufgeschrieben und sie hier auf dem Amt gemeldet.«
    »Wieso fünfzehn?«, murmelte Frau Brüggen. »Dreizehn waren es. Dreizehn zu viel.«
    Die Frau hob die Schultern. »Mehr weiß ich nicht.«
    Frau Brüggen kehrte zu den Mädchen zurück. »Habt keine Angst«, sagte sie zu Anna und Lydia. »Eure Eltern leben. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Fahrt mit uns mit der Straßenbahn. Ich kann euch nur so viel sagen, bei euch zu Hause wird es eine freudige Überraschung geben.«
    »Vielleicht hat Mutter noch ein Kind bekommen«, vermutete Lydia. »Sie wollte doch so gern noch einen Jungen haben.«
    »Du kommst vielleicht auf Ideen«, sagte Anna.
    In der Bahn drängten sich die Fahrgäste. Die Schaffnerin, die sich langsam vorkämpfte und die Fahrscheine verkaufte, schaute die Mädchen erstaunt an. »Kommt ihr aus der Fremde zurück?«
    Die Mädchen nickten.
    »Ihr braucht nicht zu bezahlen«, sagte die Frau. »Wenn ein Kontrolleur zusteigen sollte, nehme ich das auf meine Kappe.«
    Schließlich konnten sie aussteigen.
    »Anna und Lydia, ich kann euch leider nicht nach Hause begleiten. Ich muss mit meinen Nichten gehen.«
    »Nicht schlimm, Frau Brüggen. Ist ja nicht weit bis zu uns.«
    Anna und Lydia rannten los.
    Frau Brüggen ging immer langsamer, je näher sie dem Haus kam, in dem ihre Schwester jetzt wohnte.
    »Komm schneller, Tante Lene«, drängte Ruth. »Ist dir dein Rucksack zu schwer?«
    Frau Brüggen antwortete nicht. Schließlich standen sie vor der Haustür. Um den Türknauf war ein schwarzer Seidenschal gebunden.
    »Ein Trauerhaus?«, fragte Irmgard. Die Mädchen warfen ihre Rucksäcke in den Flur und rannten die Treppe hinauf. Die Angst schnürte ihnen die Kehle zu. Irmgard riss die Tür zur Küche auf. Hinter dem Tisch saß ihre Mutter.
    »Gott sei Dank«, schrie Ruth. »Ich dachte schon, du wärst …«
    Frau Zarski stand langsam auf. Die Kinder umarmten sie.
    Auch Frau Brüggen war in die Küche getreten. Auf dem niedrigen Tischchen in der Küchenecke sah sie das Foto ihres Schwagers. Ein schwarzes Bändchen war über eine Ecke gebunden. Davor brannte
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