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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen
Autoren: Willi Fährmann
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eine Kerze.
    Frau Zarski sagte: »Ruth, Irmgard, euer Vater ist vor vierzehn Tagen aus der Gefangenschaft zurückgekommen. Er ist …« Ihre Stimme versagte und ihr Blick wurde starr. Sie ging zu dem Tischchen, nahm das Foto in die Hand, schaute einen Augenblick lang darauf und zeigte es dann den Mädchen.
    Sie sahen das Trauerbändchen und wussten nun, wem das schwarze Tuch an der Haustür galt.
    »Vater ist vorgestern beerdigt worden.« Frau Zarski wischte sich die Augen. »Wir werden es schon schaffen, Kinder. Albert ist vor drei Wochen zurückgekommen. Zusammen werden wir es schaffen.«
    »Ich werde dir beistehen, Cilli«, sagte Frau Brüggen.
    »Ach, Lene. Das Haus, in dem du gewohnt hast, ist auch ausgebrannt. Bis auf die Grundmauern ausgebrannt.«
    »Alles weg?« Frau Brüggen schüttelte den Kopf. Doch dann fasste sie sich wieder und flüsterte: »Die Möbel, die Bilder, das schöne Porzellan. Lauter Sachen, an denen ich gehangen habe.« Sie fuhr lauter fort: »Aber das kann ich mir alles vielleicht wieder beschaffen. Es gibt Schlimmeres.« Sie schaute auf ihre Schwester.
    »Wenn du willst«, sagte Frau Zarski, »kannst du erst mal bei mir wohnen. Wir stellen ein Luftschutzbett in der Küche auf. Es ist nämlich nicht leicht, in Oberhausen ein Zimmer zu bekommen.«
    »Danke, Cilli. Es ist vielleicht für alle gut, wenn ich in der ersten Zeit bei euch sein kann.«
    »Ruth hat Läuse, Mama«, platzte Irmgard heraus.
    »Läuse?«, rief Ruth.
    »Ja, Läuse. Ich wollte das nicht während der Fahrt breittreten. Was hätten die anderen wohl dazu gesagt?«
    »Das Leben hat uns eingeholt«, sagte Frau Zarski und es sah so aus, als würden sich ihre Lippen zu einem winzigen Lächeln verziehen.
    »Die Besatzer haben gleich in den ersten Tagen Läusepulver verteilen lassen. Das soll Wunder wirken.«
    »Ich bin die Einzige in unserer Klasse mit langen Zöpfen, Mama«, sagte Ruth. Sie zog eine Schrankschublade auf. Die Schneiderschere lag immer noch an ihrem Platz. Ruth reichte sie der Mutter.
    »Bitte, Mama«, sagte sie.
    Frau Zarski seufzte. »Die schönen Zöpfe. Komm, Kind, setz dich auf den Tisch. Ich leg dir ein Handtuch um die Schultern. Die erste Bitte nach so langer Zeit kann ich dir nicht abschlagen.«
    Klar, dachte Irmgard. Mama hat noch nie widerstehen können, wenn Ruth sie mit ihrem Dackelblick anschaute.
    Lydia und Anna bogen um die Ecke. Das Wohnhaus stand nicht mehr. Das Trümmerfeld war schon abgeräumt. Von den alten Ziegelsteinen war der Mörtel abgeklopft worden. Sie lagen, zu riesigen Blöcken gestapelt, in der Einfahrt zur Gärtnerei. Von den Treibhäusern ragten nur die Eisenskelette der Rahmen in die Höhe. Die Pflanzhütte im hinteren Teil des Gartens war mit Blechplatten abgedeckt.
    »Ob sie da jetzt wohnen?«, fragte Anna.
    Eine fremde Frau kam aus der Hütte. »Was wollt ihr hier?«
    »Wir suchen Familie Mohrmann«, antwortete Anna beklommen.
    Die Frau schüttelte verwundert den Kopf. »Ihr wollt zu den Mohrmanns?«
    »Ja«, sagte Lydia. »Ist was mit denen?«
    »Was soll denn sein? Die sind in das Haus gegenüber eingewiesen worden. Ihr müsst den Hofeingang benutzen.«
    Die Mädchen rannten zurück zur Straße. An der Hoftür zögerten sie. Schließlich ging Anna entschlossen ins Haus. Die Küchentür stand weit offen.
    »Ist da jemand?« Es war die Stimme ihrer Mutter. Als die Mädchen nicht antworteten, sagte sie: »Georg, schau doch mal nach, wer da ist.«
    Die Kinder und ihr Vater stießen in der Küchentür fast zusammen. Erschrocken fuhr er zurück.
    »Anna! Lydia!«, brachte er heiser heraus.
    Frau Mohrmann hatte die Augen weit aufgerissen. Sie stieß einen lauten Schrei aus, der den Mädchen durch Mark und Bein fuhr, presste beide Hände gegen ihre Brust und ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen.
    »Lydia, Anna«, flüsterte sie. »Wir dachten …«
    Der Vater ging zum Schrank, zog hinter den Tellern ein Schreiben hervor und gab es Anna.
    Vorsichtig faltete sie es auseinander. » . . . dass Ihre beiden Töchter Anna Lydia und Lydia Anna Mohrmann am 1. April dieses Jahres bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Der genaue Unfallort wird noch ermittelt und Ihnen mitgeteilt. Wir sprechen Ihnen unser aufrichtiges Bei …« Anna ließ das Blatt sinken.
    »Mama, Papa, wir leben!«, rief sie.
    Später erzählte Herr Mohrmann noch oft, dass seine Frau Gerda nur zweimal im Leben so aufgeschrien hätte. Das eine Mal, das sei bei der überraschenden Geburt von Lydia gewesen.
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