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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen
Autoren: Willi Fährmann
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Erde geküsst.«
    »Jetzt musst du uns nur noch erzählen, wie hoch der Petersdom ist«, spottete Irmgard.
    »Wieso?«, fragte Lydia. »Die Kuppel ist 137 Meter hoch.«
    »Du kannst einem ja Angst machen, Lydia, mit all deinen Zahlen. Ich kann nicht einmal behalten, wann Karl der Große zum Kaiser gekrönt worden ist.«
    »Das war 800 in der Kaiserstadt …«
    »Mach endlich Schluss mit dem Zahlenzirkus«, sagte Anna. Sie zog ihre Schwester vom Boden auf. Lydia schien alle Berührungsängste verloren zu haben. Sie legte ihre Arme um Anna. »Ich bin so glücklich, dass wir wieder in Deutschland sind. Als ich auf Schloss Hartheim krank im Bett lag, da seid ihr in den Schlafsaal gekommen, Irmgard, Ruth und du, und habt euch auf das Bett neben mir gesetzt. Ihr hattet in den Innenhof geschaut und die behinderten Kinder gesehen. Ihr habt davon erzählt. Da hat mich die Angst gepackt. In meinen Fieberfantasien habe ich mir eingebildet, auch ich würde umgebracht. Als dann der amerikanische Arzt im weißen Kittel kam und die Penicillinspritze aufgezogen hat, da hat’s mich geschüttelt. Wollte er mich umbringen? Ich glaube, ich hab mich noch nie im Leben so gefürchtet.«
    Anna spürte, dass Lydia zitterte. Sie drückte sie fest an sich. »Ist alles vorbei, Lydia. In wenigen Tagen sind wir zu Hause.«
    Anna sagte nicht, dass auch sie von schwarzen Gedanken gequält wurde. Warum hatten Lydia und sie schon seit Anfang des Winters keine Post mehr bekommen? Ihre Mutter hatte doch vorher jede Woche geschrieben. Die schrecklichen Bombenangriffe. War ihr Haus getroffen worden? Was war mit ihrem Vater los? Er war in Russland gewesen. Vielleicht hatte in der Zeitung schon längst seine Todesanzeige gestanden. Gefallen für Führer, Volk und Vaterland. Oder war er vermisst? In Gefangenschaft geraten? So viele Fragen, auf die sie keine Antworten wusste.
    Philipp hupte kurz. Sie stiegen wieder auf den Lkw. Die Mädchen brauchten sich jetzt nicht mehr unauffällig und still zu verhalten. Sie begannen zu singen: Wir sind durch Deutschland gefahren, vom Meer bis zum Alpenschnee.
    Anna brauchte lange, bis sie mitsingen konnte, aber ganz konnte sie ihre Sorgen nicht wegdrängen.
    Es war kurz vor Mitternacht, als sie in die Gegend von Rosenheim kamen. Plötzlich wurden sie von amerikanischen Soldaten gestoppt. Ein Sergeant verlangte vom Fahrer eine besondere Fahrerlaubnis. »Sperrstunde seit zehn Uhr«, sagte er. »Kein Permit, keine Weiterfahrt.«
    »Wir wollen doch nur noch bis Bad Tölz, Kamerad«, sagte Philipp. »Dort ist der Sammelplatz für alle Mädchen aus der Oberhausener Schule.«
    Der Sergeant, der bisher recht höflich gewesen war, wurde mit einem Mal schroff. »Damned Nazi!«, rief er. »Ich bin nicht dein Kamerad. Deine Kameraden haben in den Ardennen meinen Bruder erschossen.«
    Er wies den Lkw auf einen freien Platz vor einer Baracke ein. »Die Sperrstunde dauert bis morgen sechs Uhr. Rühr dich mit deinem Hühnerschwarm nicht von der Stelle, sonst wird dein Wagen beschlagnahmt.«
    Die Stunden wurden ihnen lang. Es begann zu regnen. Die Planen waren nicht wasserdicht. An Schlafen war nicht zu denken. Alle sehnten das Ende der Sperrstunde herbei. Von den Amerikanern ließ sich niemand mehr blicken. Der Fahrer wartete bis zehn Minuten nach sechs, erst dann ließ er den Motor an. Er wollte weiteren Schwierigkeiten aus dem Weg gehen. Es hatte zwar aufgehört zu regnen, aber schwere graue Wolken hingen tief und versperrten den Blick auf die Alpen.
    Sie fuhren gerade nach Bad Tölz hinein, da begannen die Kirchenglocken zu läuten.
    »Alles wegen uns?«, fragte Ruth.
    »In einer Viertelstunde beginnt die Sonntagsmesse«, sagte Dr. Scholten. »Wenn sie ja hier noch keinen Organisten hätten, dann könnte ich ja …«
    »Nun mach aber einen Punkt, Otto«, rief Schwester Nora. »Kümmere dich erst um ein Quartier. Schließlich können wir nicht hier auf dem Wagen bleiben. Und Hunger haben wir auch alle.«
    Mit dem Quartier schien sich schnell eine Lösung zu zeigen. Auf dem Amt wurde ihnen eine Schule am Rande des Ortes zugewiesen. Außerdem erhielt Dr. Scholten Reiseverpflegungsscheine für ein Abendessen in Hotels und Gaststätten des Ortes.
    Eine wässrige Sonne ließ sich blicken, als sie vor der Schule hielten. Schwester Nora bekam von Dr. Scholten den Schlüssel. Während die Mädchen mit steifen Gliedern vom Wagen stiegen, wollte sie schon mal einen Blick in die Räume werfen. Entsetzt kam sie wieder heraus.
    »Unmöglich!«,
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