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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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ziehst dein Nachthemd an und bleibst erst mal liegen. Ich hole aus meiner Apotheke die schwarze Salbe und verbinde deinen Fuß. Dein Bein muss hochgelegt werden. Hoffentlich kriege ich das hin. Die durchgescheuerte Blase am linken Fuß wird keine Probleme machen. Du kennst ja die Behandlung: Jod drauf und einen Verband anlegen. Brennt zwar ziemlich, aber hilft.«
    Schwester Nora kam nicht allein zurück. Ein Mann in einem weißen Kittel begleitete sie. Lydia bekam einen Schreck. Was wollte der von ihr? Zuerst stand er nur neben der Schwester und schaute zu, was sie tat. Sie versorgte den linken Fuß. Als sie die Jodtinktur auftrug, schrie Lydia.
    »Still! Und beiß die Zähne zusammen. So geht es eben, wenn man sich nicht früh genug meldet.«
    »All right«, sagte der Mann. »Den anderen Fuß, please.«
    Schwester Nora hob vorsichtig Lydias rechtes Bein, zeigte ihm die Wunde und den roten Strich.
    Er sagte nichts, nahm etwas aus seinem Koffer und zog eine Spritze auf.
    »Nein, nein«, jammerte Lydia.
    »Das ist Dr. Amfell«, sagte Schwester Nora. »Er hat gerade im Haus nach den kranken Kindern gesehen. Er wird dir ein neues Medikament aus den USA spritzen. Es heißt Penicillin. Damit kann man Entzündungen zurückdrängen.«
    Lydia jammerte weiter.
    »Hör endlich auf zu flennen!«, fuhr Schwester Nora das Mädchen an. »Dieses Mittel kann man bei uns nirgendwo kaufen. Auf dem Schwarzmarkt zahlt man ein Vermögen dafür. Dr. Amfell behandelt dich damit. Du solltest ihm dankbar sein.«
    »Du spürst nichts außer einem kleinen Piks«, sagte der Arzt in gutem Deutsch. »Und wenn es dir übermorgen nicht deutlich besser geht, dann darfst du mich Dr. Eisenbart nennen.«
    Lydia musste trotz ihrer Angst lachen und ließ sich die Spritze geben.
    »Morgen komme ich nicht ins Schloss«, sagte er. »Aber am Samstag schaue ich wieder nach dir. Und bis dahin bleibst du im Bett. Klar?«
    Lydia nickte.
    Bevor er ging, gab er Schwester Nora eine weitere Ampulle und eine Spritze. »Wenn die Rötung am Bein nicht nachlässt, dann geben Sie dem Mädchen morgen früh noch eine Dosis. Goodbye.«
    Er winkte und ging hinaus.
    Lydia schlief bald darauf ein.
    Sie wurde erst wieder wach, als Anna, Irmgard und Ruth vom Abendessen zurückkamen. Sie bemerkten nicht, dass Lydia aufgewacht war. Die Mädchen setzten sich auf Annas Bett.
    »Hast du vorhin durch das Fenster in den Innenhof geschaut?«, fragte Irmgard.
    Anna nickte.
    »So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Irmgard. »Diese Kinder! Diese Kinder!« Sie begann zu weinen.
    »Ich wusste, dass es solche Kinder gibt«, sagte Anna. »Kinder mit krummem Rücken, lahmen Gliedern, Köpfen, die nicht zu den mageren Körpern passen, unbeholfenen Bewegungen. Ich wusste das alles. In unserem Biologiebuch waren einige fürchterliche Fotos. Aber wirklich gesehen hatte ich solche Kinder noch nie. Ich bin …« Sie brach ab, auch ihr liefen die Tränen übers Gesicht.
    Schwester Angela schaute in den Schlafsaal. Sie sah die Mädchen weinend auf dem Bett sitzen und ging zu ihnen. »Ihr habt in den Hof geschaut, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte Anna. »Das ist schrecklich.«
    »Zum Erschrecken ist es wirklich, wenn man diese Kinder zum ersten Mal sieht«, stimmte Schwester Angela zu. »Manche von ihnen werden von den Eltern in den Wohnungen versteckt. Sie dürfen nicht in die Schule gehen, obwohl manche von ihnen klug sind. Vielen Menschen ist es recht, dass diese Kinder aus den Augen geschafft werden.« Die Schwester wirkte verbittert.
    »Hier sind sie doch eingesperrt«, sagte Irmgard.
    »Nein. Sie dürfen nur im Augenblick das Haus nicht verlassen. Einige haben Typhus, zwei die Ruhr. Dr. Amfell hat Quarantäne angeordnet.«
    »Trotzdem«, beharrte Irmgard. »Das Schloss liegt weit ab vom Ort. Weit weg vom täglichen Leben.«
    Anna fragte leise: »Kann man eigentlich an Gott glauben, wenn man so was sieht?«
    Die Schwester schwieg lange. Dann sagte sie: »Gerade deshalb glaube ich. Deshalb bin ich hier. Es muss doch auch für diese Menschen eine Gerechtigkeit geben. Ausgestoßen, gemieden, weggesperrt, versteckt. Das kann doch nicht alles sein. Nicht für immer. Nicht endgültig. Das wäre ja eine Welt ohne jede Hoffnung.«
    »Aber endgültig wegschaffen, darf man das?«, fragte Anna.
    »In diesem Haus sind über Jahre hin schreckliche Dinge geschehen. Aber das darf niemals das letzte Wort sein. Ich hoffe, es stimmt, was in der Bibel steht: Die Tränen werden getrocknet, die Krankheiten sind nicht

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