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Das Netz im Dunkel

Das Netz im Dunkel

Titel: Das Netz im Dunkel
Autoren: V.C. Andrews
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Whitefern
    Irgend etwas war sonderbar an dem Haus, in dem ich aufwuchs. Da waren Schatten in den Ecken, Geflüster auf den Treppen, und die Zeit war so unwichtig wie die Ehrlichkeit. Dabei hätte ich nicht sagen können, woher ich das wußte.
    Ein Krieg fand in unserem Hause statt, ein stummer Krieg, bei dem keine Kanonen zu hören waren; und die Gefallenen waren nur Wünsche, die gestorben waren; und die Kugeln waren Worte, und das Blut, das vergossen wurde, wurde immer Stolz genannt.
    Obwohl ich noch nie eine Schule besucht hatte–dabei war ich schon sieben Jahre alt, und es war höchste Zeit, daß ich in die Schule kam–,schien ich doch alles über den Sezessionskrieg zu wissen. In meiner Nähe fand dieser Krieg noch immer statt, und wenn sich die Zukunft auch endlos vor uns erstreckte, war da doch immer noch der Krieg, den wir nie vergessen würden. Denn unser Stolz war verletzt. Wir hatten die Schlacht verloren. Vielleicht tat es deshalb immer noch weh.
    Meine Mutter und Tante Elsbeth sagten immer, daß Männer wilde Diskussionen über den Krieg jedem anderen Thema vorzögen. Aber wenn es überhaupt andere, wichtige Kriege gegeben hatte, in unserem Haus jedenfalls wurde niemals darüber gesprochen. Papa las jedes Buch, sah jeden Film, schnitt jedes Foto in einer Zeitschrift aus, das mit dem Krieg zwischen den Brüdern zu tun hatte, obwohl seine Vorfahren gegen meine Vorfahren mütterlicherseits gekämpft hatten. Er war in den Nordstaaten geboren, zog es aber vor, in den Südstaaten zu leben. Bei Tisch erzählte er aus den dicken Büchern,die er über General Robert E. Lee gelesen hatte, und er erzählte schreckliche Geschichten von blutigen Schlachten. Mich interessierte fast alles, was er las; nicht so meine Tante, die lieber fernsah, oder meine Mutter, die es vorzog, ihre eigenen Bücher zu lesen, und die behauptete, daß Papa die schönsten Stellen ausließ, weil sie nicht für Kinderohren geeignet waren.
    Damit waren meine Cousine Vera und ich gemeint. Die meisten Menschen hielten Vera für meine Schwester, aber ich wußte, daß sie das uneheliche Kind meiner unverheirateten Tante war–und daß wir sie vor der gesellschaftlichen Schmach schützen mußten, indem wir sie als meine ältere Schwester ausgaben. Ich hatte auch wirklich eine ältere Schwester, aber sie starb schon, ehe ich geboren wurde. Sie hieß ebenfalls Audrina, und obwohl sie schon so lange tot war, war sie uns doch immer noch nah. Mein Papa vergaß die erste und außergewöhnliche Audrina niemals, und er hoffte immer noch, daß ich eines schönen Tages etwa genauso Besonderes sein würde wie sie.
    Meine Cousine Vera freute sich, wenn die Leute sie für meine Schwester hielten. Ich wußte nicht, wie alt sie wirklich war, weil sie sich weigerte, es mir zu sagen. Niemand bei uns zu Haus nannte jemals sein wahres Alter. Nur über mein Alter wurde die ganze Zeit gesprochen. Vera prahlte immer damit, daß sie so alt sein konnte, wie sie gerade wollte–zehn, zwölf, fünfzehn oder sogar zwanzig. Sie konnte tatsächlich sehr erwachsen–oder sehr kindlich–aussehen. Das hing von ihrer Stimmung ab. Sie machte sich gern über mich lustig, weil ich überhaupt kein Zeitgefühl besaß. Oft erzählte mir Vera, daß ich aus dem Ei eines riesigen Straußes geschlüpft sei und daß ich von diesem Vogel eine Gewohnheit übernommen hätte: nämlich den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun,als sei alles in Ordnung. Vera wußte nichts von meinen Träumen und der Schmach, der ich ausgeliefert war.
    Von Anfang an wußte ich, daß Vera meine Feindin war, auch wenn sie so tat, als sei sie meine Freundin. Ich sehnte mich danach, sie zur Freundin zu haben, aber ich wußte, daß sie mich nicht mochte. Sie war eifersüchtig, weil ich eine Audrina war und sie nicht. Oh, wie sehr wünschte ich mir, daß Vera mich mögen und bewundern würde, so, wie ich sie manchmal bewunderte. Ich beneidete sie, denn sie war natürlich und mußte nicht versuchen wie jemand zu werden, der schon tot war. Niemand schien sich darum zu kümmern, ob Vera etwas Besonderes war. Niemand außer Vera. Vera sagte mir gern, daß ich eigentlich auch nichts Besonderes sei. Ich sei nur sonderbar. Um die Wahrheit zu sagen: Ich dachte manchmal selbst, daß ich irgendwie sonderbar war. Ich schien unfähig, mich an irgend etwas aus meiner frühen Kindheit zu erinnern. Ich konnte mich an überhaupt nichts entsinnen was ich eine Woche oder auch nur einen Tag zuvor getan hatte. Ich wußte nicht, wie
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