Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Netz im Dunkel

Das Netz im Dunkel

Titel: Das Netz im Dunkel
Autoren: V.C. Andrews
Vom Netzwerk:
und uns alle mitnahm, so, wie er die erste und unvergessene Audrina geholt hatte. Oh, wie ich meine tote, ältere Schwester haßte und beneidete. Es war wie ein Fluch, ihren Namen tragen zu müssen.
    »Wo sind die anderen?« flüsterte ich und sah michängstlich um.
    »Im Hof. Es ist Samstag, mein Liebling. Ich weiß, daß die Zeit für dich nicht wichtig ist, aber für mich. Für besondere Menschen mit ungewöhnlichen Gaben ist die Zeit nie wichtig. Aber für mich sind die Stunden des Wochenendes die schönsten. Ich wußte, daß du Angst haben würdest, wenn du plötzlich ganz allein hier im Haus gewesen wärst. Deshalb bin ich drinnen geblieben, während die anderen schon hinausgegangen sind, um die Früchte ihrer Pflanzarbeit zu ernten.«
    »Papa, warum kann ich mich nicht wie alle anderen Menschen an jeden Tag erinnern? Ich kann mich nicht an letztes Jahr erinnern oder an das Jahr zuvor–warum nicht?«
    »Wir sind alle Opfer eines doppelten Erbes«, sagte er leise und streichelte über mein Haar, während er mich in der alten Wiege schaukelte, die meine Urururgroßmutter benutzt hatte, um ihre zwölf Kinder aufzuziehen. »Jedes Kind erbt Gene von beiden Eltern, und diese bestimmen ihre oder seine Haarfarbe, Augenfarbe und Charakterzüge. Wenn Babys auf die Welt kommen, werden sie von diesen Genen und ihrer besonderen Umgebung beherrscht. Du wartest immer noch darauf, die Gaben deiner toten Schwester zu übernehmen. Wenn du das erst getan hast, wird dir alles Gute und Schöne auf dieser Welt gehören, so wie es ihr gehört hat. Und während du und ich darauf warten, daß der wunderbare Tag kommt, an dem dein leerer Kelch sich gefüllt hat, tue ich mein möglichstes, um dir nur das Allerbeste zu geben.«
    In diesem Augenblick kamen meine Tante und meine Mutter in die Küche, gefolgt von Vera, die einen Korb mit frisch gepflückten Bohnen trug.
    Tante Elsbeth mußte das meiste von dem, was Papagesagt hatte, gehört haben, denn sie meinte ironisch: »Du hättest Philosoph statt Börsenmakler werden sollen, Damián. Dann würde vielleicht jemand auf deine Worte hören.«
    Ich starrte sie an; aus meinem verräterischen Gedächtnis tauchte etwas auf, das ich vielleicht geträumt hatte, vielleicht auch nicht. Es hätte ein Traum sein können, der der ersten Audrina gehörte, die so klug, so schön und perfekt gewesen war. Aber ehe ich die Erinnerung festhalten konnte, war sie auch schon fort.
    Ich seufzte, unglücklich über mich selbst und über die Erwachsenen, die mich beherrschten, über die Cousine, die darauf bestand, daß sie meine einzige Schwester sei, weil sie mir meinen Platz streitig machen wollte. Dabei war mir mein Platz schon längst von der ersten und unvergessenen Audrina gestohlen worden, der Audrina, die eine tote Audrina war.
    Und jetzt sollte ich mich verhalten wie sie, sollte handeln wie sie, reden wie sie, sein wie sie…und was sollte aus meinem wirklichen Selbst werden?
    Der Sonntag kam. Sobald der Gottesdienst vorüber war, fuhr Papa wie immer direkt zum Familienfriedhof in der Nähe unseres Hauses. Der Name Whitefern war in ein riesiges Tor gemeißelt, durch das wir nun langsam fuhren. Wir hatten alle unsere besten Kleider an und hielten teure Blumen in den Händen. Papa zerrte mich aus dem Wagen. Ich wehrte mich, haßte dieses Grab, das wir besuchen mußten, und dieses tote Mädchen, das mir alle Liebe der anderen genommen hatte.
    Ich glaube, das war das erste Mal, daß ich mich klar an die Worte erinnern konnte, die Papa schon oft zuvor gesagt haben mußte. »Da liegt sie, meine erste Audrina.«
    Traurig starrte er auf das flache Grab mit dem schmalenGrabstein aus weißem Marmor, auf dem mein eigener Name stand–aber ihr Geburts- und Sterbedatum. Ich fragte mich, wann sich meine Eltern wohl von dem Schock ihres geheimnisvollen Todes erholen würden. Mir kam es so vor, als würde das nie der Fall sein, wenn sechzehn Jahre es nicht geschafft hatten, sie zu heilen. Ich konnte es nicht ertragen, den Grabstein anzusehen. Deshalb starrte ich in das hübsche Gesicht meines Vaters hoch über mir. So würde ich es nie mehr sehen, wenn ich erst einmal erwachsen war; das kräftige, eckige Kinn von unten, dann die schwere, geschürzte Unterlippe, die Nasenlöcher und die langen Wimpern am unteren Augenrand, die sich mit den oberen mischten, als er blinzelte, um die Tränen zu unterdrücken. Es war, als würde ich zu Gott aufschauen.
    Er schien so mächtig, als würde er alles beherrschen. Dann
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher