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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen
Autoren: Willi Fährmann
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hielt an und fragte nach dem Weg, weil er in den notdürftig geräumten Straßen die Orientierung verloren hatte.
    Ein Mann vom Roten Kreuz erkundigte sich, woher die Mädchen denn kämen, und sagte: »Ihnen hängt wahrscheinlich der Magen in den Kniekehlen. Warten Sie hier. Ich werde etwas Warmes für Sie aus unserer Notküche herschaffen lassen.«
    Philipp dauerte die Pause zu lang, und als er schon überlegte, ob sie nicht doch losfahren sollten, schleppten Frauen drei Kessel mit einer dicken Suppe herbei. Dazu gab es kräftiges schwarzes Brot und für jeden einen Würfel goldgelben amerikanischen Dosenkäse. Von dem Brot blieb noch etwas übrig. Die Frauen nötigten Dr. Scholten, es mitzunehmen, und der willigte nur zu gern ein. Philipp fragte die Frauen, ob sie jemanden wüssten, der Dieselkraftstoff besitze. Er könne als Tauschware Kunstdünger anbieten.
    Eine Frau vom Roten Kreuz wurde aufmerksam und sagte: »Mein Bruder ist Winzer. Er wohnt nicht weit von hier. Der braucht Kunstdünger so nötig wie irgendwas. Und Diesel hat er auch.«
    »Wie finde ich den Mann?«
    »Ganz leicht. Ich setze mich neben Sie in die Fahrerkabine und leite Sie hin.«
    Die Fahrerkollegen luden ihre Tauschware auf Philipps Lkw. Philipp feilschte mit dem Winzer und bekam schließlich achtzehn Zwanzigliterkanister Treibstoff. Sie wurden auf die drei Wagen verteilt und auf den Ladeflächen verstaut.
    »Stinkt wie die Pest, das Zeug«, klagte Irmgard.
    »Es steht dir frei, hier in der sauberen Luft in Würzburg zu bleiben«, brummte Philipp. »Ist sowieso viel zu eng hinten auf meinem Wagen.«
    Wortlos stieg Irmgard ein.
    »Na also.«
    Es war schon nach Mitternacht, als sie durch Frankfurt fuhren. Außerhalb der Stadt bogen die Fahrer von der Landstraße auf einen Parkstreifen ab. Philipp war zwischendurch zweimal kurz eingeschlafen und es war nur Frau Krases Aufmerksamkeit zu verdanken, dass sie nicht von der Straße abgekommen waren. Sie hatte daraufhin energisch verlangt, dass er eine Pause einlegte.
    Gegen vier Uhr ging es weiter.
    »Wir wollen am Abend gegen sieben in Oberhausen sein. Die Eltern haben sich darauf eingestellt, dass wir heute um diese Zeit wahrscheinlich auf dem Bahnhofsplatz eintreffen. Das kann klappen. Unsere Wagen schaffen es.«
    Im Westerwald gab es noch eine Reifenpanne, aber gegen fünf am Nachmittag erreichten die Lkws einen Vorort von Duisburg. Sie stoppten.
    Rechts lag eine Reihe zerstörter Häuser. Weidenröschen blühten in den Trümmern und Buschwerk war hochgeschossen, Birken und Salweiden vor allem. Zur Linken erstreckte sich ein Friedhof.
    »Wir sind zu früh«, sagte Philipp. »Wir warten eine Stunde, dann brechen wir zum letzten Stück bis Oberhausen auf.«
    Einige Mädchen bedrängten Philipp, gleich weiterzufahren. Aber Frau Brüggen schlug vor: »Manchen von euch sieht man schon auf drei Meter Entfernung an, dass ihr euch lange nicht gewaschen habt. Ihr solltet euch nach Wasser umsehen, die Haare kämmen und die Kleider richten, damit die Eltern euch überhaupt erkennen.«
    »Wo sollen wir in dieser Trümmerwüste Wasser finden?«, fragte Irmgard.
    »Auf jedem Friedhof gibt es eine Pumpe«, sagte Frau Krase. »Also auf. Frau Brüggen hat recht. Ihr seht aus wie eine Horde aus lauter Wilden.«
    »Mir juckt der Kopf«, sagte Ruth.
    Irmgard schaute sich Ruths Haare an und entdeckte Läuse, aber sie sagte nichts. Im Augenblick können wir nichts dagegen tun, dachte sie. Aber zu Hause, da werden wir die Biester ausrotten.
    Bevor es weiterging, sagte Philipp: »Ich hätte mir gewünscht, dass ihr unsere Wagen, die euch zuverlässig durch Deutschland gebracht haben, für die Ankunft in Oberhausen herrichtet und vielleicht mit Grün und Blüten schmückt.« Er zeigte auf die Pflanzen in den Häuserruinen.
    Sie staffierten die Lkws aus wie für einen festlichen Maiumzug. Auf der letzten Etappe blieben die Leute am Straßenrand stehen und staunten. Einige klatschten sogar Beifall.
    Um genau sieben Uhr fuhren die Wagen ganz langsam auf den Platz vor dem Oberhausener Bahnhof. Viele Angehörige waren zusammengeströmt. Manche Mütter waren noch nicht wieder aus der Evakuierung zurückgekehrt und viele Männer waren in Gefangenschaft. Die Erwachsenen hatten ausgemacht, dass kein Kind verlassen und allein am Bahnhof stehen bleiben sollte. Sie wollten die Mädchen, die nicht abgeholt wurden, erst einmal mit zu sich nach Hause nehmen.
    Ruth und Irmgard, Anna und Lydia suchten vergebens nach ihren Müttern.
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