Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sirenenfluch

Sirenenfluch

Titel: Sirenenfluch
Autoren: Lisa Papademetriou
Vom Netzwerk:
und ich bin der Langweiler-Sohn, den sie nie leiden konnte.«
    Zoe stutzte. »Was redest du denn da?«
    Will zuckte mit den Schultern und sah aus dem Fenster. »Du würdest mich manchmal also doch als durchgeknallt bezeichnen?«
    Zoe boxte ihn freundschaftlich in die Seite. »Ach, hör auf jetzt!« Langsam bahnte sie sich einen Weg zwischen all den heruntergefallenen Ästen.
    »Dad meinte, auf der 27 käme man um diese Zeit gut durch.«
    »Ja, da dürfte heute wenigstens nicht viel Verkehr sein.«
    »Wollen wir’s hoffen.« Zoe bog an der Gabelung ab und mit einem Mal kam der Highway in Sicht. Normalerweise wimmelte es auf der zweispurigen Straße von den schicken Wagen der Sommertouristen, doch heute Morgen war es ungewöhnlich ruhig. Bestimmt sind gerade alle damit beschäftigt, ihre Gärtner anzubrüllen, dass sie die heruntergefallenen Äste aus den Hecken holen sollen, dachte Will. Zoe fuhr auf den Highway und trat aufs Gas, dass ihnen der Wind nur so um die Ohren pfiff. Zoes Auto besaß keine Klimaanlage, allerdings war das in Shelter Bay im Grunde auch nicht unbedingt nötig. Die Seeluft war auch im Hochsommer angenehm kühl und überall duftete es nach frisch gemähtem Gras. Zwischen den Grundstücken, die den Einheimischen zur Pferdezucht oder zum Kartoffelanbau dienten, hatten die Sommergäste gepflegte Gärten angelegt.
    »Wann seid ihr angekommen?«, fragte Will.
    »Am Donnerstag.«
    »Heute ist Donnerstag.«
    »Letzten Donnerstag.«
    Will vermied es, sie anzusehen. Er war nicht überrascht. Natürlich hatte er längst bemerkt, dass drüben in ihrem Haus abends das Licht brannte. Ganz abgesehen von Johnnys Auto, das er in der Auffahrt gesehen hatte.
    Letztes Jahr hatte Zoe noch nicht einmal bei sich zu Hause haltgemacht, bevor sie hergekommen war. Kaum war Johnny mit seinem Oldtimer, einem silbernen Mercedes, in die Auffahrt der Archers eingebogen, war Zoe auch schon freudestrahlend herausgehüpft. Als Erstes war sie auf Tim, der am Gemüsestand gearbeitet hatte, zugestürzt und ihm um den Hals gefallen. Danach war sie zu Will gelaufen, der bei den Tomaten im Treibhaus war, und hatte darauf bestanden, dass er um Punkt vier Uhr mit ihr zum Strand ginge – Zoe würde sich zum Schwimmen zwar nie ins Meer wagen, doch sie liebte den Strand. Also waren sie gegangen. Aber das war im letzten Jahr gewesen.
    Zoe verließ den Highway und bog in eine kleine, schattige Straße mit sehr großen, aber keineswegs protzigen Häusern ein.
    »So, und da hast du dir also nach einer halben Ewigkeit überlegt, du könntest ja mal vorbeikommen und mir Frühstück machen?«
    Zoe schwieg. Will blickte aus dem Fenster und ließ sich die sanfte Meeresbrise durch die Haare wehen. Sein Vater zog ihn stets auf, »Geh endlich zum Friseur«, doch Will mochte seine langen Haare. Manchmal ließ er sie einfach wie eine Gardine über seine Narbe hängen.
    Tim hatte sich seine Haare jedes Jahr zum Sommerbeginn abrasiert. Gegen Ende des Sommers sah er schon wieder ziemlich verwildert aus. Will hatte den Wuschellook bei seinem Bruder schon immer mehr gemocht: Dreitagebart und Shorts, die ihm zwei Nummern zu groß waren. Mit seinem ausgeprägten Kinn und der markanten Nase sah Tim beeindruckend gut aus. Zu Beginn des Sommers konnte man ihn glatt für einen Verkehrspolizisten halten, der einen gleich herauswinken und einem einen Strafzettel für zu schnelles Fahren verpassen oder Handschellen anlegen würde. Im Spätsommer dann, wenn seine Haare wieder nachgewachsen waren, hatte er das blendende Aussehen eines Filmstars im Urlaub.
    Will blickte verstohlen zu Zoe. Ihre eine Hand lag auf dem Steuer, die andere hing lässig aus dem Fenster.
    Nach außen hin wirkte sie völlig sorglos, doch sie starrte mit ernster Miene vor sich hin, ganz in Gedanken versunken. Will fiel auf, wie blass sie war. Unter ihren Augen hatte sie dunkle Schatten.
    »Wie hast du in letzter Zeit geschlafen?«, fragte Will.
    »Ach – bin letzte Nacht wieder draußen gewesen.«
    »Das kann echt gefährlich werden«, stellte Will fest.
    Sie seufzte auf und ihre Stimme hörte sich auf einmal ganz matt an. »Ich weiß.«
    Es war Will unbegreiflich, woher sie überhaupt die Energie nahm, immer so fröhlich zu tun. Er selbst brachte das jedenfalls nicht fertig. Er schaffte es gerade mal, morgens aus dem Bett zu kommen, am Verkaufsstand zu helfen und ein paar Worte mit anderen menschlichen Wesen zu wechseln. Selbst das Zähneputzen stellte für ihn schon eine schier
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher