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Sirenenfluch

Sirenenfluch

Titel: Sirenenfluch
Autoren: Lisa Papademetriou
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halten.
    Plötzlich ertönte laute Musik aus dem Radio. Will fuhr vor Schreck so heftig zusammen, dass er fast mit dem Kopf gegen die Decke knallte. Ihm war speiübel und er bekam kaum Luft. Grüne Katzenaugen, lange schwarze Haare. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, nur wieder und wieder: Sie lebt. Ihr geht’s gut. Sie lebt. Du hast sie nicht überfahren. Trotzdem zitterten seine Hände vor Schreck und er spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Doch nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, packte ihn maßlose Wut.
    Sie hätte tot sein können! Der Gedanke, dass er sie um ein Haar umgebracht hatte, dass er ihretwegen fast eine solche Schuld auf sich geladen hatte, brachte ihn zur Weißglut.
    »Alles in Ordnung?«, brüllte Will, obwohl ihm bewusst war, dass seine Stimme durch die Windschutzscheibe höchstens dumpf zu hören war.
    Das Mädchen starrte ihn noch einen Moment lang an, dann drehte es sich um, stürzte davon und verschwand zwischen zwei Gebäuden. Fast wie das Wellblech vorhin, dachte Will, wie eine Messerklinge, die in einem Holzblock verschwindet.
    Er musste zweimal tief Luft holen, in seinem Kopf drehte sich alles. Jetzt erst bemerkte er, dass er sich mit seinem Pick-up mitten auf einer Kreuzung befand. Am liebsten wäre er dort einfach erst mal stehen geblieben, aber das ging natürlich nicht, und so fuhr er langsam wieder los.
    Nervös trommelte er mit den Fingern auf dem Lenkrad herum und versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren, doch das Mädchen ging ihm nicht aus dem Kopf. Diese merkwürdigen grünen Augen! Und diese Haut – blass und zart, wie das Innere einer Muschel. Plötzlich stutzte Will. Sie musste ungefähr in seinem Alter sein, also siebzehn, und ihm war, als hätte er sie schon einmal irgendwo gesehen. Wobei das in einer Kleinstadt wie Shelter Bay natürlich gar nichts heißen musste, denn im Grunde kam einem hier fast jeder bekannt vor. Ob ich sie kenne?, fragte sich Will.
    Aber dieses Mädchen war wunderschön. So schön, dass auch jemand wie Will, der ein Gedächtnis wie ein Sieb hatte, sie unmöglich hätte vergessen können. Zudem waren gerade Sommerferien und in einem Touristenort wie Shelter Bay wimmelte es von Juni bis August nur so von Gästen. Vielleicht machte sie hier nur Urlaub …
    Drei Straßen weiter konnte Will bereits das Meer sehen. Die Hafenanlage, in der das Segelboot seines Bruders lag, befand sich am Stadtrand, dort, wo der felsige Ausläufer von Long Island ins Meer ragte. Der Großteil der Küstengebiete in den Hamptons bestand aus weißen Sanddünen, aber Shelter Bay mit seinen dunklen Granitfelsen erinnerte eher an Neuengland. Einige kleinere Boote lagen im Hafen, der durch eine kleine Bucht vor dem offenen Meer geschützt war. Bei einem solchen Sturm wie dem, der gerade auf Shelter Bay zusteuerte, würde die Bucht allerdings kaum mehr Schutz bieten als ein Regenschirm inmitten eines Orkans.
    Schon jetzt peitschten hohe Wellen über den Strand und brachen sich an den Felsen entlang der Küste. Gischt spritzte auf und vermischte sich im Fallen mit dem Regen. Wasser zu Wasser, war Wills Gedanke, als er sein Auto am Rand des Hafens abstellte.
    »Wenn du mal etwas schneller fahren würdest als zehn Stundenkilometer, müsste ich hier nicht auf dich warten!« Ein Bär von einem Mann grinste Will an, als er in das schwankende Lobsterboot einstieg.
    »Tut mir echt leid, Onkel Carl.«
    Dieser legte ihm den Arm um die Schultern und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps.
    »Seit geschlagenen zehn Minuten warte ich jetzt schon hier.« Sein dröhnendes Lachen übertönte beinahe den Sturm. »Bis jetzt hat’s ja nur so’n bisschen geregnet«, sagte er. »Allerdings meinen die Leute vom Wetterdienst, dass der Sturm bei Shelter Bay auf Land treffen wird, also lass uns die Vagabond lieber in Sicherheit bringen. Ich kümmere mich um die Hauptleinen.«
    Der Wind peitschte Will ins Gesicht, als er sich an den Segeln zu schaffen machte. Ein Stück entfernt schaukelten die anderen Boote heftig auf und ab. Wäre es nach Wills Vater gegangen, dann hätten sie einfach nur die Segel eingeholt. Will aber war sich nicht sicher gewesen, ob das Boot so den Sturm überstehen würde – und das Risiko wollte er nicht eingehen, zumal das Boot seinem Bruder gehörte. Glücklicherweise war sein Onkel Carl derselben Meinung.
    Der graue Himmel hing bleiern über der stürmischen See. Mit wildem Getöse rollten die schäumenden Wogen auf das Ufer zu und
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