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Sirenenfluch

Sirenenfluch

Titel: Sirenenfluch
Autoren: Lisa Papademetriou
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stürzten sich in blinder Wut auf den Strand, um sich dann zischend und gurgelnd zurückzuziehen. Die dicken weißen Möwen, die man sonst stets gierig über den Docks kreisen sah, hatten unter dem Dachvorsprung der kleinen Imbissbude Zuflucht gesucht. Misstrauisch beäugten sie den Himmel, während der Regen unaufhörlich auf die dunkle Holzhütte prasselte. Ihr Schweigen hatte fast etwas Gespenstisches. Außer dem Meer war nur das ungleichmäßige Knarzen und Tocken der schaukelnden Boote zu hören.
    Wills Blick wanderte über den menschenleeren Strand. Alles wirkte düsterer als sonst. Dicke Sturmwolken verdeckten die Sonne, der Regen hatte die grauen Felsen schwarz gefärbt und der sonst weiße Sand hatte einen dunkleren Karamellton angenommen. Als würde es bereits Abend, dachte Will. Da bemerkte er, wie sein Onkel mitten in der Bewegung innehielt. Unbeweglich stand er da, einen merkwürdigen Ausdruck auf dem Gesicht und den Blick starr auf das Meer gerichtet. »Stimmt was nicht?«, fragte Will.
    Carl drehte sich zu ihm um. »Hörst du das auch?«
    Will schüttelte den Kopf und zeigte auf sein rechtes Ohr, auf dem er seit vergangenem Sommer taub war. »Was denn?«
    Carl zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht. Ich dachte, ich hätte …« Er machte ein ratloses Gesicht. »Hörte sich irgendwie an wie Musik.«
    »Steigt da etwa irgendwo ’ne wilde Party?« Will schmunzelte und Carl musste lachen.
    »Na ja, klingt eher nach ’nem Schlaflied«, entgegnete er. »Aber jetzt hör ich’s eh nicht mehr.«
    »Wahrscheinlich war’s nur ein knarzendes Boot«, vermutete Will.
    »Ja, wahrscheinlich«, stimmte Carl zu, schien aber nicht sehr überzeugt.
    Will wandte sich wieder seiner Aufgabe zu. Sanft strich er mit der Hand über den Hauptmast. Im letzten Sommer hatte das Segel Feuer gefangen, wovon noch immer ein dunkler Brandfleck zeugte. Glücklicherweise war nicht das ganze Boot in Flammen aufgegangen. Stattdessen war es gekentert, hatte dabei das Feuer gelöscht und sich selbst so vor weiterem Unheil bewahrt.
    Will holte das Segel ein, vertäute es, zog eine Abdeckplane darüber und zurrte sie fest. Dann holte er tief Luft und sah zu den Felsen hoch, die am Ufer aufragten.
    Er griff jäh nach der Reling, als hätte das Boot unter ihm einen Satz gemacht. Ihm wurde übel.
    Einer der schwarzen Felsbrocken hatte sich bewegt.
    Einen Moment lang blieb er still, dann rührte er sich wieder und mit einem Mal fiel es Will wie Schuppen von den Augen: Dort lief offensichtlich jemand die Böschung hinab. Dieser Jemand war zart gebaut, hatte lange Beine und bewegte sich leichtfüßig wie eine Spinne zwischen den Felsen. Will durchwühlte die Segeltuchtasche, in der sein Bruder allen möglichen Kleinkram aufbewahrte, bis er ein Fernglas fand. Er beobachtete die Gestalt. Ganz wie er vermutet hatte: Es war das Mädchen von heute früh. Er war sich fast hundertprozentig sicher. Sie hatte genauso lange schwarze Haare und trug auch dieselbe olivfarbene Windjacke.
    Was in aller Welt macht sie denn da?, fragte sich Will und beobachtete, wie sie am Fuß der Böschung kurz innehielt. Mit dem Gesicht zum Wasser stand sie einfach da und ging dann ganz langsam auf das Meer zu.
    Jetzt reichte ihr das eiskalte Meerwasser bereits bis zu den Knien. Will spürte, wie ihm das Salz in den Augen brannte.
    »Halt!«, schrie er. »Warte doch!«
    Aber sie blieb nicht stehen und blickte auch nicht zu ihm herüber, sondern watete weiter ins Meer hinein. Mit einem Satz sprang Will über die Reling und hastete den Strand hinunter, doch da stand sie bereits hüfttief im Wasser.
    »Halt!«
    Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn an. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Verwirrung ab und er dachte schon, sie würde sich wieder von ihm abwenden, doch sie verharrte bewegungslos in ihrer Position. Der Wind trug seinen Schrei davon, als eine Welle über ihr zusammenschlug und sie verschlang. »Neiiiiin!«
    Sie war verschwunden. So schnell er konnte, rannte Will zum Wasser. »Warte doch!« Eisige Klauen gruben sich in seine Schienbeine, als er ins Wasser watete. »Neiiiin!«
    Kurz war ihm, als hätte er eine ihrer dichten Haarsträhnen an der Wasseroberfläche gesehen. Er griff danach, doch außer Algen hielt er nichts in der Hand. Das Mädchen tauchte nicht wieder auf.
    Drohend türmte sich eine Welle vor ihm auf wie eine schier undurchdringliche Wand. Will versuchte, ins ruhige Zentrum der Welle zu tauchen, doch sie prallte mit einer solchen Wucht gegen ihn,
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