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Sirenenfluch

Sirenenfluch

Titel: Sirenenfluch
Autoren: Lisa Papademetriou
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Horizont leicht verschoben hatte. Ein schwarzes Etwas ragte schräg zu ihrer Linken auf und verdeckte einen Teil der Sterne. Es sah aus wie ein riesiger dunkler Felsen. Sie schwamm darauf zu und fragte sich, warum sie ihn nicht schon vorher bemerkt hatte.
    Sie versuchte, sich ganz auf ihre Schwimmbewegungen zu konzentrieren, doch ihre Arme wurden von Sekunde zu Sekunde kraftloser, und bestimmt lag der Felsen immer noch in weiter Ferne. Doch als sie, der Verzweiflung nahe, den Kopf hob, stellte sie zu ihrer großen Verwunderung fest, dass er auf einmal um einiges näher schien. Offenbar kam sie doch besser voran, als sie dachte.
    Sie nahm noch einmal alle Kraft zusammen und kämpfte sich durch die ruhige See. Als sie das nächste Mal aufblickte, stellte sie fest, dass sich der Felsen nun beinahe über ihr befand.
    Nur, dass es kein Felsen war.
    Voller Panik ruderte sie so schnell rückwärts, wie sie konnte, doch sie hatte keine Chance. Die Welle begrub sie unter sich. Sie war eingeschlossen von einer gigantischen Wand aus kaltem Wasser. Unsichtbare Krallen zerkratzten ihr Gesicht und Beine. Der Tsunami hatte das Meer derart aufgewühlt, dass mitgerissenes Treibholz und Muschelschalen an ihr nagten wie lebendige Wesen.
    Ihre Lunge brannte.
    Ich muss es hoch an die Oberfläche schaffen, dachte sie. Doch eine andere Stimme flüsterte ihr zu: Nach unten, weiter nach unten.
    Und dann sah sie die Augen. Verschwommen wie Silbermünzen auf dem Grund einer Pfütze leuchteten sie in dem dunklen Wasser. Und – Zähne. Die ganz langsam ein furchterregendes, eiskaltes Grinsen entblößten. »Zoe«, sagte das Wesen.
    Zoe wollte vor Entsetzen laut schreien und riss den Mund auf. Eisiges Meerwasser strömte hinein.
    Jemand streckte den Arm nach ihr aus und packte sie so fest an der Schulter, dass die Stelle brannte wie Feuer. »Zoe«, wiederholte das Wesen. »Zoe!«
    »Zoe!«
    Auf einmal klang die Stimme anders, tiefer.
    »Zoe!«
    Und dann stand plötzlich ein Mann vor ihr. Wirr abstehende Haare, dunkle Augen, schwarzer Bart, ein seltsames, blütenförmiges Muttermal an der Schläfe. Wasser lief ihm über das Gesicht wie Tränen. »Zoe!«, rief er.
    Sie presste sich verängstigt an ihn. »Dad?« Zoe sah sich um. Sie war gar nicht im Wasser. Unter ihren nackten Füßen spürte sie Holzdielen. Sie trug ein dunkelblaues T-Shirt und ihre karierte Pyjamahose. Die Kleidung klebte ihr am Leib. »Ich bin ja ganz nass.«
    »Es hat immer noch nicht aufgehört zu regnen«, bemerkte Johnny, während die Tropfen auf das Dach der Veranda prasselten. »Anscheinend haben wir’s noch nicht hinter uns. Alles in Ordnung mit dir?« Ihr Vater klang beunruhigt und auf seiner Stirn hatten sich Sorgenfalten gebildet – wie so häufig in letzter Zeit.
    »Ja, ja, alles okay.« Zoe ließ den Blick durch den Vorgarten schweifen. Eine der kleinen Trauerweiden, die am Bach auf ihrem Grundstück standen, war dem Sturm bereits zum Opfer gefallen. Selbst in der Dunkelheit konnte Zoe die Zweige sehen, die überall auf dem Rasen verstreut lagen. »Wie bin ich denn hier auf der Veranda gelandet?«, fragte sie. »Und wie spät ist es überhaupt?«
    »Mitternacht«, antwortete Johnny. Zoes Vater hatte natürlich immer noch seine Jeans und das verwaschene Band-T-Shirt an. Er ging so gut wie nie vor drei Uhr nachts ins Bett.
    »Ich dachte, du würdest längst schlafen«, sagte er. Dann überlegte er kurz und fügte hinzu: »Obwohl, wahrscheinlich hast du das ja.«
    »Das letzte Mal ist jetzt fünf Wochen her«, sagte Zoe. Damals war sie das letzte Mal geschlafwandelt. Fünf Wochen, das war fast schon Rekord.
    »Wieso stehen wir eigentlich noch hier draußen herum?« Johnny legte ihr behutsam einen Arm um die Schultern und führte sie ins Haus. »Möchtest du vielleicht einen Kakao oder irgendwas anderes Warmes? Ich find’s hier drinnen nämlich ganz schön kühl.« Er schnappte sich eine Kaschmirdecke von dem zerschlissenen Sofa und legte sie ihr um. Zärtlich streichelte er ihre Wange und schob sie sanft in die Küche.
    Eigentlich war es im Haus warm und gemütlich, doch Zoe behielt trotzdem die Decke um die Schultern. Ihr Vater liebte es nun einmal, sie so hingebungsvoll zu umsorgen, und das Gefühl, sie warmzuhalten, würde ihn glücklich machen.
    In Wirklichkeit war Zoe fast nie kalt. Selbst im tiefsten Winter trug sie lediglich eine dünne Jacke und spazierte ohne Schal und Mütze durch Manhattan, was ihren Vater jedesmal beinahe in den Wahnsinn trieb. Er hatte
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