Sirenenfluch
abebbte, blieb Zoe wie vom Donner gerührt stehen und starrte ungläubig auf den Telegrafenmasten vor ihrer Nase. Dort hing ein grellgrüner Flyer, der den Auftritt einer lokalen Band, Minutia’s Cousin, am Samstagabend im Old Barn ankündigte. Zoe streckte ihre Hand nach dem Papier aus und berührte es ehrfürchtig, als sei es ein Bruchstück aus früheren Zeiten oder ein Fragment aus einem längst vergessenen Traum.
Will las den Flyer über Zoes Schulter hinweg und sagte dann: »Tja, das Leben muss wohl weitergehen.«
In Zoes Augen loderte etwas auf, wie ein Stück Papier, das Feuer gefangen hatte. »Wie können sie nur …« Fassungslos schüttelte sie den Kopf.
Sanft legte Will ihr die Hand auf die Schulter. Er hatte die Flyer schon vorher gesehen, weshalb es für ihn kein so großer Schock mehr war, dass Tims Band nun ohne ihn weitermachte. Zoe hingegen zitterte vor Wut und hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Tim war es, der die Band ins Leben gerufen hat«, sagte sie. »Das war Tims Band.«
Will zuckte nur mit den Schultern. Er konnte sich vorstellen, wie Alans, Robs und Ginnys Kommentar hierzu lauten würde: »Tim hätte es so gewollt.« Mit Sicherheit hatte die Band sich zusammengesetzt und gemeinsam beschlossen, dass sie zum Gedenken an ihren Freund unter demselben Namen weitermachen würden und dass dies genau Tims Wunsch entsprochen hätte. Will fand es hochinteressant, dass anscheinend jeder wusste, was Tim gewollt hätte. Er selbst hatte keine Ahnung.
Er musste an Tims letztes Konzert denken, das er zusammen mit Zoe besucht hatte. Es war ein Open-Air-Konzert auf der sattgrünen Wiese vor der First Church. Der Stil von Minutia’s Cousin war ein sonderbarer Mix aus Klassik und Rock. Tim spielte Akustikgitarre, Alan Flöte und Piccoloflöte, Rob war für die Percussion zuständig und Ginny spielte E-Gitarre und sang. Die meisten ihrer Songs hatte Tim geschrieben. Er verwendete einzelne Versatzstücke und Fragmente aus dem klassischen Bereich und verpasste ihnen durch seine Arrangements einen modernen Anstrich. Minutia’s Cousin war auf dem besten Weg, sich im Ort einen Namen zu machen – sogar jetzt noch war ihre Freundesliste bei Facebook ein seltsamer Mix aus Teenagern und älteren Semestern. Zoe hatte ebenfalls zur Fangemeinde der Band gehört und darauf bestanden, dass Will sie auf jedes Konzert begleitete. Häufig sah sie sogar bei den Proben zu. Auch Will hatte Minutia’s Cousin gemocht – aber hauptsächlich deswegen, weil es eben Tims Band war. Er selbst stand eher auf Hip-Hop und mochte es vor allem laut. Was Minutia’s Cousin machten, klang für seinen Geschmack eher nach völlig überschätztem Fahrstuhlgedudel, wobei er zugegebenermaßen nicht viel Ahnung von Musik hatte.
Einen Moment lang stand Zoe nur so da, den Nacken gebeugt wie ein verbogener Kerzendocht. Schließlich riss sie sich zusammen, hob den Kopf und warf einen verächtlichen Blick auf den knalligen Flyer. »Ohne Tim können die das Ganze eh vergessen«, sagte sie knapp. Sie ging weiter und warf ihre Eiswaffel in den nächsten Mülleimer.
Zoes Tonfall nach zu urteilen, würde sie sich wahrscheinlich nie wieder bei einem Konzert von Minutia’s Cousin blicken lassen. Mit Alan und Ginny war sie immer gut befreundet gewesen – mit Rob nicht so sehr, da er selten ein Wort sagte –, doch würde sie ihnen jetzt auf der Straße begegnen, würde sie vermutlich noch nicht einmal grüßen. So war Zoe nun einmal.
Sie tat gern so, als könnte sie nichts erschüttern. Will jedoch kannte sie besser. Im Grunde konnte sie beinahe alles aus der Fassung bringen. Es war schon mehr als einmal vorgekommen, dass Zoe Will auf etwas ansprach, das er Wochen zuvor zu ihr gesagt hatte. Seine unsensible Wortwahl hatte in ihrem Innern winzige Wunden geschlagen, die nicht heilen wollten. Noch schlimmer war es, wenn Zoe dachte, sie hätte Will in irgendeiner Form beleidigt oder verletzt. Dann kam sie Tage, mitunter erst Wochen später zu ihm, um ihn wortreich für etwas um Verzeihung zu bitten, an das er sich noch nicht einmal mehr erinnerte. Er konnte einfach nicht nachvollziehen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Dinge, die für ihn überhaupt keine Bedeutung hatten, waren für sie von größter Wichtigkeit. Dies war allerdings auch der Grund dafür, dass der Anblick einer Blume sie in Entzücken versetzen konnte oder dass sie in Tränen ausbrach, wenn sie eine Suchmeldung für einen vermissten Hund las. Es war, als stünde sie immer kurz
Weitere Kostenlose Bücher