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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
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rote Katze machte ein Geräusch, das klang wie das Grölen eines Betrunkenen.
    »Ach nein? Und ich nehm dagegen meinen ganzen Mut zusammen, um mit dir zu reden, ja? Ich hab mit deinem Bruder gebumst, bist du jetzt froh? Ziemlich oft sogar, in Scarborough, und es hat mir richtig gut gefallen.«
    Er begann zu zittern, wie ich es nur im Film bisher gesehen hatte. Seine Augen mit dem gesenkten Blick sahen aus wie die eines verängstigten Kaninchens, und weil ich Angst hatte, er würde fallen oder, was weiß ich, kaputtgehen, packte ich ihn an der Schulter, weil er mir zerbrechlicher vorkam als je zuvor, als würde er jeden Moment vom Erdboden verschwinden. Kaum hatten sich meine Finger um ihn geschlossen, umarmte er mich, drückte seinen Kopf an meine Schulter. Auch ich umschloss ihn mit meinen Armen.
    Ich sagte: Wen wo ai ni.
    Der Druck seines Kopfes an meiner Schulter.
    Seines Hirns an meinem Körper.
    Seiner Existenz an meiner.
    Endlich.
    Er sagte: »Nein, du liebst mich nicht, das ist nicht wahr, du lügst, du warst mit meinem Bruder zusammen, ich wusste es, ich wusste es, ich wusste es.«
    Er amputierte seine Arme von meinem Rücken.
    Noch einmal sagte er: »Ich wusste es«, und übertrug dann die drei Wörter in kindliche Schluchzer. Die rote Katze machte sich wichtig. Wen ging ins Geschäft. Dann drehte er sich um und schaute in mein Gesicht, das ihn in der Sprache meiner Mutter aus vollem Halse anflehte.
    Mein Gesicht, das in meiner Muttersprache jedoch nur weinte und basta.
    Mein hässliches Gesicht, das sterben muss.
    »Wen, ist Lily tot?«
    Ich trat ebenfalls ins Geschäft und machte die Tür zu.
    »Entschuldige, Camelia. Ich kann nicht mit dir zusammen sein. Ich will dir nicht wehtun.«
    »Aber ich …«
    »Geh zu Jimmy, es wird euch gut gehen. Ciao.«
    Er öffnete die rote Tür. Machte sie hinter sich zu. Ich stand rechts neben der Kasse und wusste nicht mehr, wie man atmet.
    In Briggate aß ich in einer stinkenden Imbissbude zwei Teller Fish & Chips, was ich eigentlich verabscheue. Während ich mir den Magen vollschlug, trockneten die Tränen auf meinen Wangen, und mein Herz klopfte wieder langsamer. Ich zahlte. Auf die Konferenz konnte ich nicht gehen. Verdammt, langsam ging mir das Geld aus.
    Ich war früh dran. Ich ging und ging, obwohl meine Beine sich anfühlten wie Blei. Am Ende der Querstraße, ganz klein zwischen einem Schuhgeschäft und dem Imbiss, war ein Studio mit dem Namen »Tattoos für jedermann«. Als ich an der Kreuzung stehen blieb, spürte ich, wie mir etwas warm die Beine herunterlief.
    Ich ging auf das Geschäft zu. Im Fenster hing das übliche Poster mit Fotos von Kunden. Ein Mosaik aus Armen und Rücken und Schultern und Beinen und Brustkörben ohne den übrigen Körper, bemalt mit verschlungenen Drachen oder blöden Tribal-Mustern, mit Namen von Personen oder schrecklichen Kobolden, die alle aussahen wie ich. Beine mit Blumen, Pobacken mit Comicfiguren, eine Schulter mit einem springenden Delphin. Alle sahen seltsam entrückt von den Körpern aus, zu denen sie gehörten, und wirkten dort auf dem Poster, mit den Preisen daneben, wie eine McDonald’s-Speisekarte für Zombies. Als ich duselig vor diesen Fleischstücken stand, die ganz allein auf der Welt waren, durchgefroren und mit dem Tod auf Chinesisch, der mir am Bein pochte, hatte ich das Gefühl, zu ihnen zu gehören.
    Ein Typ mit grünen Haaren kam aus dem Geschäft und sagte: »Kann ich dir helfen?«
    Ich trat ein.
    »Ich möchte, dass ihr das da schreibt.«
    »Sorrry?«, antwortete er. Zu viel Rs, der musste Schotte sein.
    Ich nahm einen Stift aus meiner Tasche und schrieb mir mein persönliches Ideogramm auf die Hand. An der Stelle, wo ich mir früher hingeschrieben hatte, dass ich meine Mutter waschen musste, und davor, dass ich mich exmatrikulieren wollte.
    Der Junge sagte: »Allrrrright«, und zeigte mir eine Liege. Auf seinem rechten Arm ein knallblauer Fluss und in der Ferne zwei pastellgrüne Häuser sowie eine Möwe im Flug.
    Ich setzte mich. Überall hingen irgendwelche Körperteile. Direkt neben der Kasse ein frommer Schenkel: Das Avemaria verdeckte bis zum Knie die Cellulite. Dann zwei spindeldürre Hände mit tätowierten Ringen. Daneben ein muskulöser Arm mit einer arabischen Inschrift. Und zu meiner Rechten, in Rosa eingerahmt, zwei poetische Arschbacken mit dem Autogramm von William Blake. Das Gedicht begann auf der linken Backe und verlief von oben nach unten, wie im Japanischen. Den Schluss bildete das Y von
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