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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
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das hatte nie etwas bedeutet. Es hatte nie etwas bedeutet, dass ich gelebt hatte, und noch weniger, dass ich überlebt hatte. Der Schönheit ist nur die Schönheit wichtig, und der Rest landet in den Müllcontainern der Christopher Road, mitten unter gehäuteten Kadavern und gemeuchelten Klamotten. Und ihr genügte es nicht, einmal schön gewesen zu sein, sie musste schöner als schön sein, blonder als blond, größer als groß, eine Schnellfeuerwaffe aus Schönheit, die mit zwei gezielten Schüssen in mein Herz traf, und niemand kam, um meine Leiche abzuholen.
    Ich machte einen Schritt auf die beiden zu.
    Livia schaute mich nicht einmal aus dem Augenwinkel an.
    Ich machte einen weiteren Schritt. In meiner Sprache sagt man, jemand leidet wie ein Hund. In der Sprache der Hunde weiß ich nicht, wie man sagt. In der von Francis, pah, der bewegte seine Zunge im Mund von Livia, als wollte er ihr die verloren gegangene Stimme aus der Kehle holen.
    Sie erwiderte seinen Kuss mit geschlossenen Augen, den rechten Arm zart um seine Hüfte gelegt, die schmalen Finger gebogen, als lägen sie auf den Tasten ihrer Flöte und spielten ein langes sol .
    Ihr hellblaues Swarowski-Armband sandte blinzelnde Funken aus, als wäre da eine Fee, die alles verzaubert.
    Ein weiterer Schritt.
    Persischblau, Denimblau, Ultramarinblau.
    Noch ein Schritt.
    Sie küsste ihn weiter in diesem verdammten Celentano-Blau, il blu dipinto di blu. Das eisblaue Hemd von ihm leuchtet kristallklar unter der Jacke hervor. Ich dachte, wenn Rotlicht für käuflichen Sex steht, dann steht blaues Licht für den Mord an deiner Tochter, die sich für dich aufgeopfert hat, und offenbar macht man auch das zu zweit.
    Jetzt stand ich direkt vor ihnen. Livia streichelte ihm ganz sanft und respektvoll über die Haare, als würde sie einen Oscar polieren, aber dabei hörte sie nicht auf, ihn zu küssen.
    Wer weiß, wie es sich anfühlt, mit der Zunge einen Mund zu erkunden, der aufgehört hat, Bedeutungen abzusondern, der nur noch ein Mund ist, ein Mund, mit dem man isst und küsst, ein Mund, Gaumen und Zähne, und träger Speichel, und Zahnfächer, gegen die keine Zunge mehr schlägt, und ein Gaumensegel, das kein G oder K mehr bildet, sondern nur noch ein Segel ist, mit dem man davonsegeln könnte, wenn man zum zweiten Mal heiratet und in die Scheißflitterwochen aufbricht.
    Je mehr ich mich näherte, desto mehr wurde das Blond von Livia zu einem Liebesorakel mit Glück bringenden Verheißungen einer gesunden, blonden Nachkommenschaft.
    Das Neonlicht auf ihrem Kopf wurde zur Illustration des Teils der amerikanischen Verfassung, in der vom Recht auf persönliches Glück die Rede ist. Erst da bemerkte ich das Foto hinter ihnen.
    Es war ein Foto, das von weit weg aufgenommen war. Vorne lange, trockene Äste und im Hintergrund diese Brücke, die sich für die Nacht bereitmacht, eine wohlvertraute Umgebung im Dunkeln, fern, verschwommen.
    Der Stein, der langgezogene Ms bildete. Mutter. Monster. Mord.
    Es war die Brücke von Knaresborough.
    »Mama, ich muss mit dir reden. Ohne den da.«
    Ein Blick, der Mein-geliebter-Schatz sagte, wurde, als er sich von seinem Blick löste zu: Ach, du bist’s, ich würde zu gerne wissen, was du von den Fotos hältst, schau doch mal.
    »Ich kenne Knaresborough. Ich muss mit dir reden, bitte, hör mir zu.«
    Francis, der sagt: »Ach, bist du dort gewesen? Und warst du auch auf der Burg?«
    Meine Mutter streicht sich die Haare hinter die Ohren und sieht zufrieden zu den beiden alten Leuten, die in diesem Moment den Raum betreten.
    »Mama, verdammt noch mal, hörst du mir zu?«
    Sie ging ganz langsam auf die alten Leute mit dem Buckel zu.
    Ich drehte mich zu den fünf Fotos meiner Mutter, die allesamt die Brücke von Knaresborough zeigten. Zwei waren aus großer Entfernung aufgenommen, sodass man nur den schmalen Strich aus dunklem Stein erkennen konnte, der das Wasser vom Himmel trennte; zwei weitere hingegen, aus nächster Nähe, zeigten eines der runden Bullaugen, die die Brücke und ihr Spiegelbild im Fluss zusammen bildeten, und in dem Bullauge sah man angedeutet die Häuser am Ufer, hellbraun oder mit Schachbrettmuster, alle von unterschiedlicher Höhe, alle schön.
    Das letzte Foto zeigte nur den Fluss mit der Spiegelung der mächtigen Brückenpfeiler. Das Wasser war schwarz wie ein Kanaldeckel, aber du könntest wetten, wenn du ihn öffnest und dich hineinstürzt, wird es so sein wie Pandoras Büchse, aus der alles Übel hinaus auf die
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