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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
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einem Kind sagte. Meine Füße rutschten in den viel zu großen Schuhen nach vorne. Es war ein kleiner Raum mit ein paar Stühlen, einem Schwarzen Brett voller Flyer, auf denen es hieß, Jesus ist der Retter, und einem Getränkeautomaten.
    Francis schob lautlos einen Stuhl beiseite und setzte sich. Auch sie setzte sich neben ihn, ich davor. Er schaute mich an, sagte aber nichts. Er trug eine blaue Krawatte mit himmelblauen und roten Papageien.
    Wir begannen ein stummes Konzert im Dreivierteltakt.
    »An der Flöte hören Sie nicht Livia Mega. Bitte bleiben Sie bei uns auf Pearl Radio.«
    Francis schaute mich pausenlos an, aber er sprach keine Sprache.
    Die Tatsache, dass er die gleiche Stille hervorbrachte wie meine Mutter, hatte etwas Kriminelles. Der Würgereiz in meiner Kehle hielt die Worte fest, die ich ihm gerne gesagt hätte.
    Er hingegen würde mit Sicherheit bald nicht mehr tatenlos zuschauen, wie ich den Hosenanzug, den er an einem viel schöneren Körper gesehen hatte, mit meinem Schweiß beschmutzte, und würde etwas zu mir sagen.
    Und da war sie auch schon, seine Stimme, die sagte: »Ich habe begriffen, dass du nicht damit einverstanden bist, dass ich mit deiner Mutter ausgehe, aber du wirst dich daran gewöhnen müssen, es ist etwas Ernstes.«
    Und meine Mutter ein Lächeln, das nicht mit mir redete.
    Und ich: »Aber seit wann geht ihr denn miteinander aus?«
    Sie blieb bei ihrem Lächeln, das mir nichts sagte, er tat es ihr nach, als nähmen sie an einem Wettbewerb teil, wer die schönsten Zähne hat. Was wohl ihre waren, aber wie hatte sie es verdammt noch mal geschafft, dass sie wieder so weiß geworden waren? Und ich, wo war ich?
    Ich warf ihr einen flehenden Blick zu, der hieß: Mama, antworte mir, seit wann kennst du ihn, und warum hast du mir nie von ihm erzählt?
    Francis streichelte Livia an der Schulter und sagte: »Hast du gesehen, Camelia, wie deine Mutter dich anlacht? Na komm schon, bevor es dunkel wird, geh ein bisschen aus und amüsier dich mit deinen Freunden.«
    Draußen gewitterte es. Der Himmel hatte die Farbe einer Computertastatur ohne die Tasten. Zungen schmutzigen Regens leckten an der Leeds-grauen Fassade des Studentenwohnheims, als würde sich der Zement im sauren Regen auflösen. Die Fenster wurden geschlossen, eins nach dem anderen, wie bei einer Choreographie. Der letzte Streber klappte seinen Laptop zu. Die letzte Bulimikerin machte das Licht in der Küche aus. Der letzte Salonlöwe schloss die Tür des Gemeinschaftsraumes. Die letzte Taube verließ den letzten Balkon. Dann stürzte sie sich herab, vom Blitz getroffen. Mir dröhnte der Kopf, und ich spürte bedrohliche Bewegungen in meinem Bauch. Ich machte einen Schritt, dann zwei. Die Hose schleifte im Dreck, zwischen benutzten Tempos und phosphoreszierenden Kondomen.
    Ich atmete ein und atmete aus.
    Die Taube bewegte noch den Kopf, während der Regen ganz langsam seine Eingeweide in den Gully ergoss.
    Zu meiner Linken jagte der letzte Gemischtwarenladen gerade seinen letzten Kunden nach Hause. Ich hielt ihn an, um nach der Uhrzeit zu fragen.
    »Tut mir leid, ich habe keine Uhr.«
    »Und wissen Sie, was für einen Tag wir heute haben?«
    »Sorry?«
    »Ich hab gefragt, was für einen Tag haben wir heute?«
    Ich würgte das Wort für »Tag« auf Englisch auf den nassen Asphalt hinaus, dann auf Italienisch und schließlich auf Chinesisch.
    Der Junge nahm Reißaus, als hätte ich ihn mit nuklearem Gift bespuckt. Ich blieb stehen, um mir meinen Auswurf zu betrachten, der vage an Schriftzeichen erinnerte. Der Regen fiel in perfekten Spiralen auf das faulige Grün und verwässerte es zu einem Tannengrün, das zu Dunkelgrau tendierte. Weiche Stücke von Backfisch dümpelten im Wasser und vermischten sich mit den Hüllen der Kinderriegel, die auf dem Gehsteig in Richtung Abfluss getrieben wurden. Das von dem Riegel mit Karamellgeschmack endete im Gully, und das mit den ganzen Haselnüssen blieb liegen, um sich vom Regen zerfetzen zu lassen. Ich klappte den Schirm auf. Der Wind riss ihn mir sogleich aus den Händen und wehte ihn in die Pfütze mit meinem Auswurf.
    Fröhlich spazierten Leute in Shorts vorbei, einige lachten. Die Ameisen benutzten meinen Schal als Floß und stürzten sich in Hundertschaften auf das organische Disneyland der Innereien der Taube. Mein Schirm drehte sich auf der Pfütze im Kreis.
    Radikal für Schirm? Und für Kotze? Und für hässliches Mädchen, das sich gleich etwas antun muss? Aber was weiß ich, was
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