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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
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Menschheit entweicht. Das Betrügen, es spritzt dir auf die Jacke, die Lüge, sie steigt dir in die Nase, und der Hass, er trifft dich direkt ins Auge.
    Und so weiter, bis in alle Ewigkeit, oder, wenn es dir lieber ist, bis du krepierst, spritzt dir das Böse auf den ganzen Körper, so wie das Sperma von Jimmy.
    »Mama, verdammt noch mal, ich muss mit dir reden, gehen wir einen Moment nach draußen.«
    Doch ihre sublimierten Rimmel-Blicke galten nur den beiden alten Leutchen.
    Meine Mutter ging auf sie zu und nahm mich dabei mit ihrer perfekt perfekten Hand am Handgelenk. Also, was hältst du denn nun von dem Foto? Ich spürte, wie weich ihre Hand war. Ist es nicht unglaublich, dass diese Hand drei Jahre Entwöhnung von Hygiene überlebt hatte und aus dieser Zeit noch weicher und glatter und makelloser hervorging und jetzt mein Handgelenk packte? Und ist es nicht ungeheuerlich, dass diese wiedergeborene Hand sich zuerst auf ihn und dann auf mich gelegt hatte?
    Ich löste mich aus dem Griff und packte ihre Hand. Meine Hand zitterte und schwitzte. Als sie den festen Griff spürte, riss sie die Augen auf, und dann fragten mich diese tyrannischen Augen: Was ist denn, Schatz?
    Ich drückte noch fester. Ich legte ihre Hand an mein Gesicht und drückte ihre langen Finger an meine Wange, an meine Tränen. Ihre Fingerkuppen wie die hellen Tasten der Flöte.
    Sie sagte mir mit einem Blick Du tust mir weh.
    Ich erwiderte den Blick.
    Meine schmutzigen und abgeknabberten Fingernägel versanken in den weichen Zwischenräumen ihrer tauf-weißen Fingerknöchel.
    Livia Mega rührte sich nicht.
    Ich spürte das Pochen ihres lauwarmen Blutes unter den Fingern.
    Sie schaute mich ausdruckslos an.
    Ich begann noch heftiger zu weinen.
    Ich weinte um mich, die ich direkt vor meinen eigenen Augen im Fluss von Knaresborough ertrank. Und um Jimmy, der irgendwo, aber ohne mich, mit seiner fröhlichen Mission der Besamung beschäftigt war. Und für Wen. Und für diese Lily. Wer weiß, ob sie noch am Leben ist, aber im Grunde schon.
    Es war einmal, da gab es noch Sonntage, und als es sie noch gab, stand mein Vater in der noch neuen und sauberen Küche mit dem alten Ledertäschchen unter dem Arm und dem Beatles-Notizbuch in der Hemdtasche. Er sagte, ich solle mich mit der Milch beeilen, weil wir weg wollten, er müsse ein Meisterwerk von Mizoguchi ausleihen, und ich stürzte rasch die kochendheiße Flüssigkeit hinunter und sagte: »Aber erzähl mir die Geschichte nicht vorher, ja?«
    Meine Mutter erschien in ihrem weißen Hosenanzug in der Küche, wie immer aus dem Ei gepellt. Er: »Ziehst du dich so fürs Radio an?«
    Die Holzuhr über den Herdplatten tickte, dass es ihr scheißegal war, wie er sie behandelte.
    Und ich ging raus, sie stritten, ich schaute ihren Mündern dabei zu, wie sie hinter dem Glas stumme Worte ausspuckten.
    Als sie herauskam, gab sie mir einen halbherzigen Kuss, der sich anfühlte wie von einem Geist, und drückte auf die Fernbedienung, mit der man den Alarm ihres weißen Micra entriegelte. Ich wollte sie umarmen.
    Ich wollte ihr sagen, dass ich sie anbetete.
    Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr meine Verehrung über Telepathie zu vermitteln.
    Ihr Micra antwortete mit einem Piepsen. Sie ging in Zeitlupe darauf zu, mit gemessenen Schritten auf Pfennigabsätzen. Sie stieg ein. Dann kam mein Vater heraus, schloss die Haustür ab und sagte: »Denk dir nichts, Kleine, jetzt schauen wir uns einen Film an, stell dir vor, was für eine schöne Geschichte wir sehen werden.«
    Das Gesicht von Livia Mega wurde immer weißer, auch die Finger auf meinem Gesicht, und sie äußerte Blicke, die ich nicht verstand, denn auf einmal beherrschte ich nicht einmal mehr das Einmaleins ihrer Blicke. Ich konnte es einfach nicht, ich schwöre es, ich konnte nicht einmal mehr das Notenblatt ihrer Iris lesen.
    Ich konnte nur die Finger auf ihre Finger drücken. Mir platzte schier der Kopf, ich schwitzte wie ein Schwein, mir zitterten die Beine, und alle Menschen um mich herum waren wie feige Spiegelbilder auf dem Fluss von Knaresborough, und unter ihnen war Francis mit seiner ganzen mörderischen Schönheit, der jetzt näher kam und sie von mir entfernte, sein Gesicht war verärgert, und er schrie mir etwas zu. Ich verstand gar nichts mehr. Der Mann meiner Mutter, der mich an der Hand in ein anderes Zimmer zerrte, ohne dass ich mich dagegen wehrte. Einen Moment lang blieb er stehen und machte auch Livia ein Zeichen, die gerade lächelnd etwas zu
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