Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narben

Narben

Titel: Narben
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
1
    Sie lächelte und sah aus dem Fenster. Von ihrem Sessel aus hatte sie einen guten Blick aufs Meer.
    »Guten Morgen, Lucy.«
    »Guten Morgen, Dr. Delaware.«
    Ihr schmales Gesicht, dominiert von großen braunen Augen und starken Wangenknochen, war voller winziger Sommersprossen, das rehbraune Haar schulterlang. In dem hellblauen Baumwollpulli und rosa Faltenrock sah sie jünger aus als fünfundzwanzig.
    »Also«, sagte sie, immer noch lächelnd.
    »Also«, wiederholte ich.
    Das Lächeln erstarb. »Heute möchte ich über Schwandt reden. Und zwar, was ich noch nicht erzählt habe.«
    »Die Einzelheiten.«
    Sie preßte die Lippen zusammen, und ihre Hände verkrampften sich. »Sie haben keine Vorstellung.«
    »Ich habe die Verhandlungsprotokolle gelesen, Lucy.«
    »Alle?«
    »Alle Einzelheiten vom Tatort. Detective Sturgis’ Aussage.« Und was er mir privat erzählt hatte.
    »Ach so. Dann wissen Sie ja Bescheid.« Sie blickte aufs Meer hinaus. »Ich dachte, ich wäre darüber weg, aber in letzter Zeit geht es mir nicht aus dem Kopf.«
    »Die Träume?«
    »Nein, ich muß ständig daran denken; wenn ich am Schreibtisch sitze, wenn ich fernsehe - egal, was ich tue. Bilder von der Verhandlung tauchen auf, besonders die Fotos, diese Vergrößerungen. Und Gesichter: Carrie Fieldings Eltern, Anna Lopez’ Mann, Schwandt selbst. Es kommt alles wieder zurück.«
    »So lange ist es noch nicht her, Lucy.«
    »Zwei Monate, ist das nicht lange?«
    »Nicht für das, was Sie durchgemacht haben.«
    »Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich saß auf der Geschworenenbank und kam mir vor wie vergiftet. Je ekelhafter es wurde, um so mehr genoß er es. Er suhlte sich in seiner Bosheit, forderte uns geradezu heraus, ihn zu bestrafen. Und wir nahmen die Herausforderung an, nicht wahr? Weil es unsere Pflicht war, ihn unschädlich zu machen. Warum fühle ich mich dann so furchtbar? - Glauben Sie, er hat wirklich solche Mißhandlungen hinter sich, wie er behauptet?«
    »Dafür gibt es keinen Beweis. Meiner Ansicht nach war sein verrücktes Benehmen vor Gericht nichts als Verstellung, mit dem Ziel, für unzurechnungsfähig erklärt zu werden.«
    »Sie meinen, er hat die ganze Zeit vollkommen rational gehandelt?«
    »Rational würde ich es nicht nennen, doch mit Sicherheit ist er kein Psychopath oder Opfer unkontrollierbarer Triebe. Es macht ihm Spaß, Menschen zu quälen.«
    »Dann ist die Todesstrafe gerechtfertigt.«
    »Man muß ihn von der Gesellschaft fernhalten.«
    »Das haben wir mit Sicherheit geschafft. Der Staatsanwalt sagte, wenn er je jemanden mit gutem Gewissen auf den elektrischen Stuhl geschickt hätte, dann ihn.« Sie lachte bitter.
    »Macht Ihnen das zu schaffen?«
    »Nein… oder vielleicht doch. Ich war ursprünglich nicht für die Todesstrafe. Aber die anderen redeten auf mich ein, als wäre ich ein widerspenstiges Kind, das am Ende einsehen muß, was richtig ist. Ohne diesen Druck hätte ich wahrscheinlich nie für den elektrischen Stuhl gestimmt.«
    »Sie erleben diesen Konflikt, weil Sie ein moralisches Wesen sind, Lucy. Vielleicht kehren die Bilder deshalb zurück«, sagte ich.
    »Wie meinen Sie das?«
    »Vielleicht ist es jetzt nötig, daß Sie sich genau ins Bewußtsein rufen, was Schwandt getan hat.«
    »Um mich zu überzeugen, daß ich richtig gehandelt habe?«
    »Genau.«
    Der Gedanke schien sie zu beruhigen.
    »Genaugenommen ging es doch immer um Sex«, sagte sie plötzlich zornig. »Er befriedigte sich, indem er andere leiden ließ. All diese Aussagen der Verteidigung über unkontrollierbare Impulse - alles Unsinn. Die armen Frauen - was er sie machen ließ… mein Gott. Warum beginne ich eigentlich meinen Tag auf diese Weise?« Sie schaute auf die Uhr. »Ich möchte jetzt lieber aufhören. Ich habe so viel zu tun.«
    »Sind Sie im Rückstand wegen Ihrer Geschworenendienste?«
    »Nein, das hatte ich in einer Woche wieder aufgeholt. Aber die Arbeit scheint mehr zu sein als gewöhnlich. Sie kommen immer mit etwas Neuem, als wollten sie mich bestrafen.«
    »Wofür?«
    »Weil ich drei Monate nicht zur Verfügung stand. Die Firma war zwar verpflichtet, mir freizugeben, aber glücklich waren sie nicht darüber. Als ich meinem Chef den Brief vom Gericht zeigte, sagte er, ich solle es nicht annehmen. Aber das wollte ich nicht; ich dachte, es sei wichtig. Da wußte ich noch nicht, welche Gerichtsverhandlung sie mir zuweisen würden.«
    »Wenn Sie es gewußt hätten, hätten Sie sich dann zu drücken versucht?«
    Sie dachte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher