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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch
Autoren: Wiley Cash
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    Adelaide Lyle
    Kiesstaub wehte über den Parkplatz, während ich im Wagen saß und das Gebäude als das sah, was es gewesen war; nicht als das, was es jetzt in diesem Augenblick im heißen Sonnenlicht war, sondern rund zwölf oder fünfzehn Jahre zuvor: ein großer Gemischtwarenladen, wo sich die Leute vor der Essenstheke drängelten oder in einer Schlange vor dem Limonadenstand warteten, wo kleine Kinder sich Eis in so ziemlich jeder denkbaren Geschmacksrichtung bestellten, wo sie Bonbons in Viertelpfundtüten kauften, Schokokekse, Zuckermandeln und andere Sachen, auf die ich seit Jahren schon keinen Appetit mehr hatte. Und mit geschlossenen Augen hätte ich sehen können, wie das Gebäude weitere vierzig oder fünfzig Jahre früher ausgesehen hatte, damals, als ich noch eine junge Frau war: eine Fliegentür, die laut zuschlug, brennende Öllampen, die schwarz rußten, staubige Pferde vorne an die Pfosten angebunden, wo der Eismann jeden Mittwochnachmittag ablud, die letzte Station auf seiner Route, ehe er weiterfuhr, aus dem Tal heraus, kaltes Wasser zentimeterhoch auf der Ladefläche sei- nes Lasters. Damals, bevor Carson Chambliss kam und die Reklameschilder abnahm und die alten Pferdepfosten ausriss und das inzwischen vergilbte Zeitungspapier an die vorderen Fenster klebte, damit niemand hineinsehen konnte. Damals, bevor er und die Diakone die kaputten Kühlgeräte mit der Sackkarre herausrollten und reihenweise Klappstühle aufs Linoleum stellten und elektrische Bodenventilatoren, die einem die Hitze ins Gesicht pusteten. Wenn meine Augen geschlossen geblieben wären, hätte ich das alles in dem trüben Licht der Erinnerung sehen können, so, als würde man ein Streichholz in einer Höhle, die das Sonnenlicht nie erreichte, entzünden. Aber da ich durch meine Windschutzscheibe nach draußen starrte, sah ich jetzt, dass es doch bloß ein einfaches Gebäude aus Beton war, und wäre da nicht das Schild hinten an der Straße gewesen, hätte man nicht einmal bemerkt, dass es sich um eine Kirche handelte. Und genau so wollte Carson Chambliss es auch.
    Er hatte das Schild am Rand des Parkplatzes aufgestellt, als er die Kirche von Marshall ein Stück flussaufwärts hierherverlegte, nachdem Pastor Matthews 1975 an Krebs gestorben war. Chambliss sagte, die Kirche in der Stadt sei einfach zu groß, um den göttlichen Geist darin zu spüren, und ich schätze, einige Leute glaubten ihm, denn ich weiß, dass manche von uns es glauben wollten. Aber Tatsache war, dass nach Pastor Matthews’ Tod die Hälfte der Leute die Gemeinde verließ und das Geld nicht mehr ausreichte, um das alte Gebäude zu halten. Die Bank übernahm es und verkaufte es an eine Gruppe Presbyterianer, von denen kaum einer aus Madison County war, manche nicht mal aus North Carolina. Sie sind jetzt seit zehn Jahren in dem Gebäude, und ich schätze, sie sind stolz drauf. Das sollten sie auch. Es war ein schönes Gebäude, als es noch unsere Kirche war, und ich vermute, das ist es noch immer, obwohl ich seit unserem Auszug keinen Fuß mehr hineingesetzt habe.
    Auch der Name unserer Gemeinde wurde geändert, von »French Broad Church of Christ« in »River Road Church of Christ in Signs Following«. Unter das neue Schild da draußen an der Straße schrieb Chambliss mit schwarzer Farbe »Markus 16 : 17 – 18 «, und das war so ungefähr alles, worüber er zu predigen geneigt war. Das war auch der Grund, warum ich tun musste, was ich getan habe. Ich hatte genug gesehen, zu viel, und es wurde Zeit, dass ich ging.
    Ich hatte gesehen, wie Menschen, die ich fast mein ganzes Leben lang gekannt hatte, Schlangen in die Hand nahmen und Gift tranken, sich Feuer ans Gesicht hielten, bloß um zu sehen, ob sie sich verbrennen würden. Noch dazu fromme Menschen. Gottesfürchtige Leute, die sich noch nie im Leben so verhalten hatten. Aber Chambliss redete ihnen ein, es wäre ungefährlich, den Willen Gottes herauszufordern. Er machte ihnen weis, es wäre in Ordnung, das Wagnis einzugehen, wenn sie nur glaubten. Und so gut wie alle sagten,
Hier bin ich, Herr. Komm und hol mich, wenn Dir der Sinn danach steht. Ich bin bereit.
    Ich schätze, sie waren bereit, zumindest hoffe ich das, weil ich nämlich mit ansehen musste, wie so mancher von ihnen sich verbrannte oder vergiftete, und kein Einziger war gewillt, zum Arzt zu gehen, wenn er krank geworden oder verletzt worden war. Deshalb beunruhigten mich die Schlangenbisse am meisten. Die Mokassinottern und Klapperschlangen
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