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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
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platzte. Und mich verfolgten die hohen Spitzen von diesen Pflanzen, die so verflucht glänzend und schnittig waren, dieses übertriebene Grün, das man in den japanischen Comics sieht, wenn die Heldinnen sich verwandeln, oder auf dem schillernden Papier, in dem Kinderriegel eingewickelt sind, sprich ein Grün, das Kinder bis zur Blödheit glücklich macht.
    Sie bewegten sich unter einem Zauberwind, der sich auf meinem Gesicht jedoch nur wie ein Schlag anfühlte, der mir die Haare ins Gesicht wehte und mich in den Augen nervte. Mir war eisig kalt. Ich ging weiter und weiter und zitterte am ganzen Körper, während unter dem Hosenanzug die eingeritzten Schriftzeichen Schmerzblitze emporsandten. Der Blumenladen war zu, aber nicht so geschlossen wie der Kiosk, sondern zu wie eine Gruft. So zu, dass es nicht genügt hätte, den Rollladen hochzuziehen, sondern man dafür mindestens einen Pakt mit dem Teufel hätte schließen müssen.
    Ich kam am Friedhof vorbei und gelangte schließlich zu dem Geschäft von Wen, das ebenfalls geschlossen war. Ich setzte mich davor. Die blutrote Schrift auf dem Schild lautete »Shouxue shangdian«. In der dritten Unterrichtsstunde hatte mir Wen gesagt, »Shangdian« heiße »Geschäft« und »Shouxue« laute der Name seiner Mutter.
    Jetzt weiß ich, dass »Shouxue« auch bedeuten könnte: »den Schnee verteidigen«.
    Oder, wenn man es recht bedachte, auch: »Loch«.
    Ich suchte in meiner Jackentasche nach dem Handy. Fand aber bloß das Teppichmesser.
    Ich zog es hervor. Und schrieb noch einmal, unter dem Knie, das Schriftzeichen für »Tod«, über das Zeichen für »Tod«. So wie wenn man auf einen Grabstein schreibt: »Wir werden dich immer lieben.«
    Der Radikal für »Abend« links davon, diese Art T rechts. Und darüber das Dach als Schutz. »Abend« zitterte einen Moment lang, dann begann es zu bluten, und dann brach am Himmel die richtige Nacht heran. Es war kalt, und es tat weh.
    Meine entstellten Beine trugen mich zum Friedhof. Ich kletterte über den Zaun. Setzte mich und lehnte mich mit dem Rücken an den nächsten Grabstein.
    Ich machte die Augen zu, aber es war sowieso schon dunkel.
    Ich erwachte, den Kopf an einen frühen Tod gedrückt. Der Grabstein des Zwölfjährigen hatte einen Schmerz an meiner Stirn hinterlassen, es war die Schuld der knienden Putte mit den mehr als einen Meter ausgestreckten Flügeln.
    Ich richtete die Augen gegen Morgengrauen, das nur wer mit den antimeridianen Verzagtheiten von Leeds vertraut ist, überhaupt als Morgengrauen erkennen konnte. Hinter dem Glockenturm des Friedhofs arbeitete eine winzige Sonne vor einem verwaschenen Rot an ihrer Selbstverwirklichung, wie das Loch auf einigen Fotos meiner Mutter.
    Meine Mutter.
    In meinem Kopf öffnete sich das Wort Mutter wie ein Klappstuhl und wurde zu Mann meiner Mutter.
    Ich stand auf. Der Tag nistete vor einem nächtlichen Hintergrund, der einfach nicht gehen wollte. In Leeds ist der Tag nur Ansichtssache.
    Das Unkraut, das höher war als ich, brachte die Leere mit sich und verkleidete die Grabsteine. Ich kletterte über den Zaun.
    Ein Rabe sprach für mich, denn ich selber hatte keine Lust. In meiner Muttersprache heißt es: Ich hab auch keine Lust zu leben. In der Sprache meiner Mutter ist es ein Blick, der sich bis in die letzte Faser des Teppichbodens wühlt und dann daraus erhebt, um mich anzuschauen. Ich sollte besser sagen war, bevor nämlich all ihre Blicke diesem Mann galten, urplötzlich, ohne Vermächtnis, und mir nur noch flüchtige Blicke aus dem Augenwinkel blieben.
    Wens Geschäft war offen.
    Mir tat alles weh, was in einem menschlichen Körper Schmerzen bereiten kann. Mich fror bis in die Erinnerung hinein. All meine Erinnerungen hatten blaue Lippen.
    Ich näherte mich ganz langsam und wartete, bis Wens Blick auf mich fiel. Mein Herz schlug schneller als Lichtgeschwindigkeit. Als er an die Tür kam, um mir zu öffnen, fragte ich: »Gefalle ich dir denn gar nicht?«, doch meine Stimme hatte viele verschiedene Tonlagen, eine hinter der anderen, wie auf den alten Tonbändern, wenn die Batterie fast alle ist.
    Wen griff langsam nach meinen Fingern. »Du gefällst mir sehr.«
    »Warum willst du mich dann nicht?«
    »Es gibt einen Grund.«
    »Verdammt noch mal, welchen Grund denn?«
    Er begann ganz leise zu schluchzen, dort auf der Schwelle zu seinem Geschäft. Mit tief geneigtem Kopf drückte er seine tuscheverschmierten Fingerchen auf seine Augen.
    »Red schon, Blödmann!«
    »Nein.«
    Die
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