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Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)

Titel: Siebzig Acryl, dreißig Wolle: Roman (German Edition)
Autoren: Viola Di Grado
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auch mal einen Fotoapparat. Und ein Federmäppchen aus blauem Plüsch. Und ein Fotoalbum. Und neunundfünfzig CD s und siebenundsechzig DVD s. Und dann noch ein Buch über chinesische Küche, eine Stereoanlage in Metallic, einen Tweety-Kulturbeutel und so weiter und so weiter, das hört gar nicht mehr auf mit diesem »und so weiter«. Dieses »und so weiter«, an das ich immer denke, aber es denkt nicht an mich, und wenn ich alle aneinanderreihe, dann entsteht eine Geschichte, aus der ich in hohem Bogen rausgeflogen bin.
    Ich hatte gerade alles in die Wohnung an der Victoria Road gebracht, wo ich ganz alleine wohnen wollte, wo ich mein Chinesisch-Studium abschließen und an die Zukunft glauben wollte, so wie es alle Menschen tun, die bei Verstand sind.
    Die gelben Lämpchen über dem Spiegel.
    Die Porzellangeisha mit dem geblümten Kimono auf der Kommode.
    Puccini und Verdi, die mir meine Mutter geschenkt hatte, und das Gesamtwerk von Björk, in alphabetischer Reihenfolge in der obersten Schublade.
    Der indische Teppich in Rot und Grün. Die Bücher über Taoismus und die vergilbten Märchenbücher aus der Zeit, als ich noch in Turin in der Via Vanchiglia gewohnt hatte.
    Das Fotoalbum aus Kunstleder mit mir selber drin, die ich von Seite zu Seite größer werde. Ich fange bei sechs Jahren an, auf der Piazza Cavour in Turin, mache mit sieben Jahren bei der Ankunft in Leeds weiter und habe innerhalb von fünf Minuten bereits das Alter von achtzehn Jahren erreicht, wo ich in einer alten Wohnung an der Victoria Road wohne, drei Monate Sprachunterricht hinter mir und viele weitere vor mir habe sowie einen Haufen leerer, weißer Seiten, die erst noch mit Fotos vollgeklebt werden müssen.
    Ich liebe Fotoalben, weil sie dir den Eindruck vermitteln, dass sich die Zeit vorwärtsbewegt, als würdest du in einem Auto sitzen, und wenn du aus dem Fenster schaust, sieht es so aus, als würden die Bäume rückwärts an dir vorbeimarschieren.
    Aber dort bin ich dann doch nicht hingezogen. Am zwölften Dezember, als ich mir gerade das Poster meiner Lieblingssängerin übers Bett hängte, klingelte mein Handy, das ich aufs Fensterbrett gelegt hatte. Hinter dem Fenster schien eine Phantasiesonne, ein Spritzer Dottergelb auf dem kranken Weiß des Himmels.
    Ich erinnere mich noch an die Leute, die da draußen redeten und gingen, an alle erinnere ich mich. Ich erinnere mich an die triumphierende Art, mit der sie die Gesundheit ihrer Gesichter spazieren trugen, an ihre roten Lippen, die nicht von der Kälte aufgesprungen waren und sich zu einem siegesgewissen Lächeln ausbreiteten, so wie man nach der Hochzeitsnacht die blutigen Leintücher einer Braut ausbreitet, um zu zeigen, dass sie noch Jungfrau war.
    Und ich erinnere mich an den frisch lackierten Zaun des Headingly Office Park.
    Als ich ans Telefon ging, war mein Mutter dran. Sie weinte. »Es ist was passiert«, sagte sie zwischen zwei Schluchzern.
    »Was ist denn, Mama, was ist denn?«
    »Komm sofort ins Krankenhaus.«
    »Aber was ist denn passiert?«
    »Dein Vater.«
    Dort unten lächelten die Leute immer noch. Was für eine Verschwendung an Gesichtsmuskelaktivität. Dabei hätten sie mir doch einfach einen Stein an den Kopf schmeißen können.
    Björk blieb so hängen, mit heruntergeklapptem Gesicht, an nur einer Reißzwecke, und ganz sicher fiel sie auf die Matratze herunter, als ich die Wohnung verließ. In der Tat ist sie mir auch nie wieder über die Lippen gekommen, auch unter der Dusche nicht, wo ich ihre Lieder immer aus vollem Halse gegrölt hatte.
    Es war fünf nach elf, und es blieb fünf nach elf, weil ich auch meine Taucheruhr in der Wohnung ließ, zusammen mit dem ganzen übrigen Zeug. Ich fuhr mit dem Bus, und draußen vor dem Fenster spulte sich die Straße ab wie ein langes, buntes Band. Bäume Häuser Imbissbuden Pudel Blumengeschäfte Banken, und da waren überall Hominiden und, noch schlimmer, auch eine Sonne, die alle beschützte. Alles lief blitzschnell und reibungslos an mir vorbei und passte wunderbar zum anderen, wie in einem dieser amerikanischen Filme mit den trendigsten Schauspielern, die am Schluss begreifen, wie wichtig die innere Schönheit ist, vielleicht sogar begleitet von den Klängen des letzten großen Hits eines magersüchtigen Pop-Idols. »Komm sofort ins Krankenhaus«, hatte meine Mutter gesagt, aber bei ihr hatte man immer den Eindruck, als würde sie einem was verschweigen. Stets spürte man das Gewicht eines Wortes, das sich unter den
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